Wie beeinflusst Mehrsprachigkeit das mathematische Verständnis, fragten Forscher der Uni Luxemburg. Christine Schiltz, Professorin für kognitive Neurowissenschaften, Doktorandin Amanda Van Rinsveld und ihr Team am Cognitive Science and Assessment Institute (Cosa) untersuchten anhand von Verhaltenstests und mit funktioneller Magnetresonanztomografie, wie mehrsprachige Personen Rechenaufgaben lösen, die sie in zwei Sprachen gestellt bekommen. Dazu wurden bilingualen Muttersprachlern, die in Luxemburg zur Schule gegangen sind, also auf Deutsch alphabetisiert wurden und ab der Sekundarstufe Französisch als Unterrichtssprache hatten, im Scanner Matheaufgaben in denen beiden Sprachen vorgelegt, von einfachem Rechnen bis zu etwas anspruchsvolleren Additionen.
Es zeigte sich, dass die Testpersonen einfache Additionen in beiden Sprachen etwa gleich gut lösen konnten. Für komplexere Additionsaufgaben, die auf Französisch gestellt wurden, benötigten sie mehr Zeit und sie machten deutlich mehr Fehler als bei derselben Aufgabenstellung auf Deutsch. „Im Scanner konnte man sehen, dass in der Testsituation unterschiedliche Hirnregionen aktiviert wurden“, so Christine Schiltz. Die Magnetresonanztomografie ist ein bildgebendes Verfahren, das die Hirnaktivität abbildet. Den Forscherinnen fiel auf, dass bei einfachen Aufgaben eine kleine Sprachregion des linken Temporallappens aktiviert wurde, während beim Rechnen komplexer Aufgaben auf Französisch zusätzliche Hirnregionen beteiligt waren, die für das räumlich-visuelle Denken verantwortlich sind. „Eine Erklärung dafür, warum das so ist, haben wir nicht. Aber es scheint, dass die Testpersonen auf bildliches Denken zurückgreifen“, sagt Schiltz. Dabei handelt es sich offenbar nicht um eine reine Übersetzungsarbeit vom Deutschen ins Französische: „Wäre es eine Übersetzungsleistung gewesen, hätten andere Areale im Gehirn aktiviert sein müssen“, so Schlitz. Diese Beobachtung ist insofern bemerkenswert, weil offenbar beim Lösen französischsprachiger Matheaufgaben andere Denkprozesse involviert waren, als wenn dieselben Testpersonen deutschsprachige Aufgaben lösen, respektive monolinguale Personen Rechenaufgaben in ihrer Sprache lösen. „Das beweist, dass mathematische Leistungen von der Sprache beeinflusst werden“, so Schiltz.
Die Untersuchung ist nicht die einzige, mit denen sich Schiltz und ihre KollegInnen am Cosa beschäftigen. Sonja Ugen, Entwicklungspsychologin, hatte bereits in einem früheren Forschungsprojekt mit Sekundarschülern nachweisen können, dass Sprache die mathematischen Leistungen beeinflusst (d’Land vom 27.3.2015). Dafür hatte sie zweisprachige Classique-Schüler (die zuhause Luxemburgisch sprechen) unterschiedlicher Jahrgangsstufen im Rechnen getestet. Die Jugendlichen sollten einfache Rechenaufgaben lösen, die sie selbst lesen mussten oder die sie über Kopfhörer vorgespielt bekamen. Sie sollten bewerten, welche Zahlen größer sind, sowie einfache Additionen durchführen. Allerdings veränderten die Forscher die Zahlen so, dass mal der Zehner und mal der Einser größer war. Denn während im Französischen die Zehner sprachlich betont werden, werden im Deutschen die Einser zuerst gesprochen. „Die Überlegung war, über die Art der Fehler den Impakt, den eine Erst-, respektive ein Zweitsprache auf das Rechnen haben, zu messen.“ Die Wissenschaftler maßen, wie schnell und wie akkurat die Schüler die Aufgaben jeweils auf Deutsch und Französisch lösten. Wurden die Zahlen gelesen, waren die Reaktionszeiten am besten für jene Zahlen, wo die Zehnerziffer größer als die Einserziffer war, unabhängig von der Sprache. Wurden sie mündlich vorgelesen, variierten die Reaktionszeiten von der einen zur anderen Sprache, die Schüler hatten offensichtlich Schwierigkeiten mit der unterschiedlichen Zehner-Einser-Zählweise. Grundsätzlich waren die Schüler schneller auf Deutsch und machten dort weniger Fehler. Je komplexer die Rechenaufgaben wurden, desto höher war auch die Fehlerquote im Französischen. „Es scheint, dass die Sprache, in der sie zu zählen gelernt haben, eine wichtige Rolle bei ihren Rechenleistungen spielt“, erklärt Sonja Ugen.
Die Psychologin wurde von den Lyzeen Redingen und Grevenmacher beauftragt, den dortigen deutschsprachigen Matheunterricht zu evaluieren. Beide Schulen bieten, als Konsequenz dessen, dass viele Schüler sich mit Mathe auf Französisch schwer tun, das Fach parallel auf Deutsch an (d’Land vom 17.3.2017). Die Uni analysiert die Angebote, die nicht ganz identisch sind, dahingehend, welche Wirkung das Beibehalten der ersten Unterrichtssprache Deutsch auf die Rechenleistungen der Schüler hat. Außerdem soll geprüft werden, welche Hilfestellungen, etwa durch verständlicher formulierte Textaufgaben oder durch kurze Übersetzungen, Lehrern an die Hand gegeben werden können, damit sie die Jugendlichen beim Rechnen optimal unterstützen.
Mathematikunterricht auf Deutsch, wenn auch im mehrsprachigen Schulsystem hierzulande politisch umstritten, macht kognitiv betrachtet Sinn, so die Forscherinnen Ugen und Schiltz: Die bisherigen Studien zeigten, dass Schüler am besten Mathe in der Sprache lernen, in der sie Rechnen gelernt haben. Im Luxemburger Schulsystem ist dies nach respektive neben der Herkunftssprache Deutsch. „Mehrsprachigkeit ist, so gesehen, mit kognitiven Kosten verbunden“, unterstreicht Ugen. Kinder müssen in der zweiten Unterrichtssprache Französisch zusätzliche Leistungen erbringen, um eine Rechenaufgabe richtig zu lösen. Das war der Grund, warum Mathelehrer in Grevenmacher das Fach auf Deutsch angeboten hatten: um sich stärker auf Mathe konzentrieren zu können, statt durch Unsicherheiten im Französischen gehemmt zu werden und so den Einfluss von Sprachproblemen auf die Mathematik-Leistungen zu minimieren. Christine Schiltz und ihr Team wollen nun in einem weiteren Projekt ihre Untersuchungen auf die Grundschule ausdehnen. Außerdem ist geplant, mathematische Tests zu entwickeln, die so weit möglich ohne den Einfluss von Sprache auskommen. Solche Tests könnten beispielsweise genutzt werden, um bei Neuankömmlingen in Luxemburg, ungeachtet der Herkunft und der sprachlichen Fertigkeiten, die mathematische Kompetenz zu erfassen.