Von der „katholischen Arbeitertochter“ zum „städtischen Migrantensohn“? Forschung zu Bildungsungleichheiten in Luxemburg

Beitrag zur sachlichen Debatte

d'Lëtzebuerger Land vom 17.11.2017

Fabio stammt aus einer Einwandererfamilie und lebt in Echternach. Er schafft einen beruflichen Abschluss an einer technischen Sekundarschule und wird Mechatroniker. Lynns Familie lebt schon seit Generationen in Sandweiler. Nach dem Abschluss am klassischen Lyzeum besucht Lynn die Universität und wird Lehrerin.

So oder so ähnlich sehen typische Bildungskarrieren in Luxemburg aus, und viele Lehrerinnen und Lehrer werden Ähnliches aus ihren Klassenzimmern anekdotisch zu berichten wissen. Wenn man sich allerdings nicht auf Anekdoten verlassen möchte, braucht man wissenschaftliche Studien und eine auf Dauer gestellte Berichterstattung zum Thema Schule und Bildung. Zwei wichtige Quellen für dieses Wissen um das Schulsystem sind dabei der Bildungbericht sowie das nationale Bildungsmonitoring (die „Épreuves standardisées“), die beide an der Universität Luxemburg angesiedelt sind.

Der Bildungsbericht, der alle drei Jahre erscheint, nimmt das luxemburgische Bildungssystem mit Hilfe von Daten, Kennzahlen, Experimenten und qualitativen Untersuchungen vom Kindergarten bis zur Universität unter die Lupe und zeigt zum Beispiel, dass es vor allem die alteingesessenen Schüler sind, die im luxemburgischen Schulsystem erfolgreich sind, und dass die Mädchen dabei noch etwas erfolgreicher sind als die Jungen. Zudem spielen die ökonomischen Verhältnisse der Schülerfamilien beim Übergang von der Grund- zur Sekundarschule eine wichtige Rolle. Der schulische Erfolg hängt also offenbar – nicht nur, aber eben auch – mit Geschlecht, familiärer Herkunft und sozialer Schicht der Kinder und Jugendlichen zusammen. Würde das Schulsystem rein meritokratisch funktionieren und alle Schülerinnen und Schüler nur nach ihren Fähigkeiten und Leistungen beurteilt, dürften soziale Kriterien wie Schicht, Geschlecht, Herkunft und so weiter keine Rolle spielen. In Luxemburg ist die Wirkmacht dieser sozialen Ungleichheiten in Bezug auf die Bildungschancen jedoch so ausgeprägt wie in kaum einem anderen europäischen Land.

Dieser Befund ist nicht neu: Bereits im Jahr 1968 illustrierte die Magrip-Studie des damaligen Institut pédagogique, wie eng die Herkunft der Schülerinnen und Schüler und ihr Schulerfolg zusammenhingen. Eine Neuauflage der Studie an der Universität Luxemburg im Jahr 2009 konnte zudem zeigen, dass der Schulabschluss in Luxemburg mehr als in anderen Ländern maßgeblich den späteren beruflichen Erfolg bestimmt. Die Weiterentwicklung der kognitiven Fähigkeiten war für den beruflichen Erfolg hingegen eher nebensächlich: Während sich in angelsächsischen Ländern die kognitiven Fähigkeiten einer Person mit fortschreitender Berufslaufbahn zunehmend positiv auf den beruflichen Werdegang auswirken, war das für Luxemburg nicht der Fall. Verpasste Bildungsabschlüsse können so in Luxemburg kaum noch kompensiert werden. Ein schwerwiegender Befund, da das luxemburgische Schulsystem nicht alle talentierten Schülerinnen und Schüler gleichermaßen fördert. Viele Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien besuchen eben keine höheren weiterführenden Schulen, obwohl sie das nötige kognitive Potential dazu besäßen.

In den 1970er Jahren war es vor allem die – wie es der Soziologe Ralf Dahrendorf in einer vergleichbaren Studie für Deutschland formulierte – „katholische Arbeitertochter vom Lande“, in der alle Merkmale der Bildungsbenachteiligung in einem einprägsamen Stereotyp zusammenflossen. Heute scheint es eher der „migrantische Arbeitersohn aus der Stadt“ zu sein, für den das Schulsystem nicht die gleichen Bedingungen bereithält wie für seine Altersgenossen.

In Luxemburg kommt noch dazu, dass ein Kind, das in einem Vorort der Stadt Luxemburg aufwächst, das Schulsystem meist erfolgreicher durchläuft als ein Kind im Norden oder Süden des Landes – unabhängig davon, ob es einen so genannten Migrationshintergrund hat oder nicht. Zu diesem Schluss kam der Bildungsbericht der Universität Luxemburg im Jahr 2015, und er verweist darauf, dass der sozioökonomische Status einer Familie einen großen Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder hat. Denn natürlich beeinflusst nicht der Wohnort als solcher den Schulerfolg. Der Wohnort ist vielmehr ein Indikator für die ökonomische und soziale Zusammensetzung der Familien. Ein Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Schulerfolg existiert ebenfalls, denn Kinder, die zuhause nicht eine der drei Landessprachen sprechen, müssen im Bildungssystem nacheinander Luxemburgisch, Deutsch und Französisch neu lernen. Der geringere Bildungserfolg des „migrantischen Arbeitersohns“ lässt sich also auf ein ganzes Bündel an Faktoren zurückführen.

Der Bildungsbericht von 2015 förderte damit etliche altbekannte Probleme, aber auch einige Überraschungen zu Tage: Dass sich Bildungskarrieren auch regional stark unterscheiden, war eine dieser Überraschungen – wie stark Übergangsentscheidungen auch von leistungsfremden Faktoren beeinflusst werden, war eine andere. So konnten die Forscher der Universität zeigen, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund auch bei gleichen Leistungen häufiger auf ein technisches Lyzeum orientiert wurden als ihre luxemburgischen Mitschüler. Und der Befund, dass das „Sitzenbleiben“ die Leistungen der Schülerinnen und Schüler nur kurzfristig verbessert, dürfte den einen oder anderen auch eher überrascht haben. Schließlich ist die Sitzenbleiberquote an luxemburgischen Schule auf einem internationalen Höchststand und die Klassenwiederholung scheint an einigen Schulen als pädagogisches Allheilmittel angesehen zu werden.

Das nationale Bildungsmonitoring-Programm ist ein zweiter wichtiger Eckpfeiler zur Evaluation des Luxemburer Schulsystems. Hier stehen vor allem die erreichten Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund. Die Épreuves standardisées analysieren wichtige sprachliche und mathematische Fähigkeiten von Schülern aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen mit Hilfe standardisierter Tests. Damit können die Ergebnisse von Schülerleistungen über einzelne Klassen oder ganze Schulen hinweg relativ leicht verglichen werden. Zudem orientieren sich die „ÉpStan-Tests“ im Gegensatz beispielsweise zu den Pisa-Untersuchungen an den luxemburgischen Bildungsstandards, sie sind also speziell auf die Luxemburger Schul- und Bildungslandschaft zugeschnitten. Vor allem die besondere Sprachensituation an den Schulen kann so besser als bei anderen, internationalen Vergleichstests berücksichtigt werden.

Die Ergebnisse der standardisierten Schulleistungstests werden in unterschiedlichen Berichten an die Schulleitungen, die Fach- und Klassenlehrer, die Erziehungsberechtigten sowie an die Schülerinnen und Schüler weitergegeben. Sie tragen damit zu einer sachgerechten und wissenschaftlich fundierten Diskussion über Schule in Luxemburg bei.

„Without data“, so der amerikanische Physiker William Edwards Deming, „you are just another person with an opinion.“ Ohne Datengrundlage bleibt die eigene Meinung also immer eine schwache und führt die öffentliche Diskussion über Schul- und Bildungsfragen häufig in die Irre. Der Bildungsbericht und die Épreuves standardisées liefern aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden die Daten, die für eine sachliche und unaufgeregte Debatte über schulische Fragen nötig sind. „Vom Wiegen“, so weiß allerdings der Volksmund, „wird die Sau nicht fett.“ Daten alleine machen also noch keine bessere Schule – da sind dann die Politik, die Lehrerschaft und das Engagement jedes Einzelnen gefragt.

Thomas Lenz, Antoine Fischbach und Sonja Ugen arbeiten als Bildungsforscher an der Universität Luxemburg.

Thomas Lenz, Antoine Fischbach, Sonja Ugen
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