Er wolle den Bildungskrieg beenden, hatte Schulminister Claude Meisch im Gespräch mit dem Land im April 2014 angekündigt. Da war er sechs Monate im Amt. Heute sieht es so aus, als wäre ihm das mit der Sekundarschulreform geglückt. Der heftige Streit um den richtigen Weg, die 41 Lyzeen im Land zu modernisieren und fit für das 21. Jahrhundert zu machen, scheint passé: keine Schülerdemo, keine Lehrerkomitees und Gewerkschaften, die zum Streik aufrufen, kaum Leserbriefe haben die Verabschiedung begleitet. Nicht einmal zu einem Schlagabtausch in der Abgeordnetenkammer kam es. Am Donnerstagnachmittag wurde sie mit den Stimmen der Mehrheit beschlossen, die Opposition stimmte geschlossen dagegen.
Dass es in der Zielgraden so wenig Kontroverse gab, mag einerseits daran liegen, dass umstrittene Elemente wie der sogenannte Travail personnel, das Tutorat für jeden Schüler oder die automatische Versetzung nach der 7e im unteren Zyklus des Technique (künftig: Enseignement secondaire général) im Text nicht mehr enthalten sind. Auch die geplante Umstellung auf einen kompetenzorientierten Unterricht im Classique fällt weg. Sie hatten insbesondere bei den Lehrerkomitees der klassischen Lyzeen Proteststürme ausgelöst, weil diese eine Mehrbelastung fürchteten. Stattdessen sollen die Schulen künftig selbst entscheiden, in welcher Form sie solche Unterstützungsmaßnahmen anbieten wollen. Das gestraffte, auf sechs schriftliche und zwei mündliche Prüfungen reduzierte Première-Examen sowie die größere Flexibilität bei der inhaltlichen Gestaltung der Sektionen und Wahlfächer fanden schon beim Vorgängerentwurf von 2013 weitgehend Zustimmung.
Der ruhige Schein trügt gleichwohl: Tatsächlich gibt es heute weiterhin inhaltliche Kritik an der Reform quer durch die Schullandschaft, nur hört man kaum davon. Das liegt daran, dass der Minister zwar gerne und viel von Partizipation und Beteiligung redet, in Wirklichkeit jedoch seine Beamte, gemeinsam mit ausgewählten Gewerkschaftern und Direktoren in Arbeitsgruppen hinter Türen den Text ausarbeiten ließ. Anders als bei seiner Vorgängerin Mady Delvaux (LSAP), als Interessierte auf www.reformelycee.lu alle Meinungsbeiträge, Positionspapiere und Analysen nachvollziehen konnten, bleibt es Meischs Geheimnis, was in den Arbeitsgruppen oder bei seiner Tour durch die Sekundarschulen im Land von Seiten der Schüler, Lehrer und Direktionen zur Reform gesagt wurde. Der Elterndachverband Fapel wurde jedenfalls nicht um seine Meinung gefragt und legte sein Positionspapier erst am Tag der Abstimmung im Parlament vor. Nicht einmal ein Gutachten des Direktorenkollegiums liegt vor, ein höchst ungewöhnlicher Vorgang bei einer Reform, die die Schulen direkt betrifft. Man habe gemeint, ein Gutachten werde nicht mehr gebraucht, erklärt der Minister auf Land-Nachfrage, als sei es an ihm, darüber zu entscheiden.
Dass die Direktoren sich nicht mit einer gemeinsamen Stellungnahme zu Wort gemeldet haben, mag auch daran liegen, dass ihre Position mit der Reform gestärkt wird. Mehr Autonomie für die Schulen und diversifizierte Angebote statt „Schnitzel mit Fritten“ überall, wie Meisch zuspitzt, übersetzt der DP-Minister hauptsächlich mit mehr Entscheidungsgewalt für die Schulleitung. Nicht nur, dass Schulen ihre Profile durch eigene Fächerkombinationen und Themenschwerpunkte schärfen können. Statt früher über zehn Prozent des Lehrplans frei verfügen zu können, soll es künftig doppelt so viel sein. Gemeinsam mit den gesetzlich verankerten „Schulentwicklungszellen“ sollen Entwicklungsziele definiert werden. Im Plan de développement de l’établissement scolaire (PDS) werden diese Ziele und Maßnahmen zu ihrer Umsetzung festgehalten. Die Entscheidung über pädagogische Projekte, Schulprofil, -charta und Budget beschließt, im Prinzip, weiterhin der Conseil d’éducation, in dem Lehrer, Eltern und Schüler vertreten sind. Allerdings soll im Streitfall, wenn sich die Parteien nicht einig werden, die Direktion das letzte Wort haben. Und im neuen Comité de conférence, das die alten Lehrerkomitees ablöst und vielmehr sämtliches Schulpersonal einbezieht, soll auch die Direktion vertreten sein.
Die CSV-Abgeordnete Martine Hansen kommentierte diese Neuerung auf der Pressekonferenz ihrer Partei am Mittwoch trocken mit: „Regel Nummer eins: Der Chef hat immer Recht. Regel Nummer zwei: Hat der Chef einmal kein Recht, dann greift automatisch Regel eins.“ Mit Basisdemokratie, von der der Minister sonst so gerne spricht, habe der erweiterte Entscheidungsspielraum der Direktionen nichts zu tun. „Wer die Basis in den Schulen gewinnen will, darf diese nicht nur pro forma einbinden“, so die bildungspolitische Sprecherin der CSV, die vor ihrer Politiker-Laufbahn Leiterin der Ackerbauschule in Ettelbrück war. Die CSV hatte bereits am Mittwoch angekündigt, gegen die Reform zu stimmen.
Der Machtzuwachs der Direktionen entspricht allerdings der Logik einer gestärkten Autonomie, die auch die CSV nicht grundsätzlich ablehnt. Bildungsexperten wie der Pädagogikprofessor Herbert Altrichter aus Österreich, neben Dänemark und Großbritannien eines der EU-Länder, das früh auf mehr Selbstverantwortung der Schulen setzte, fordern starke Schulleitungen, um komplexer werdende Qualitätsentwicklungsprozesse professionell zu steuern. Um zu verhindern, dass jede Schule macht, wonach ihr der Sinn steht, braucht es klare Vorgaben und Bildungsziele. Sie will das Ministerium in Form von Referenzrahmen vorgeben, die aber zum Zeitpunkt der Abstimmung im Parlament nicht auf dem Tisch lagen.
Die Schulen sollen ihre Entwicklungsziele innerhalb von sieben Themenfeldern des PDS wählen können (siehe unten). Doch Instrumente wie der Projet d’établissement oder der Projet d’innovation pédagogique sind an diese Marschroute nicht gebunden. „Das ist aber nötig, um sicherzustellen, dass sie in dieselbe Entwicklungslogik passen und evaluiert werden“, findet Martine Hansen. Ihre Partei, die im zuständigen Schulausschuss so viel Redezeit einforderte wie keine andere, hatte zuvor mit eigenen Anträgen versucht, den Entwurf nachzubessern, beispielsweise Schulprojekte in den PDS zu integrieren als auch den Aspekt der Unterrichtsqualität als eigenen Themenschwerpunkt im Plan zu etablieren: „So würden die Sekundarschulen angehalten, wirklich in die Qualität im Unterricht und in der Klasse zu investieren.“
Dem Änderungsantrag erging es wie zehn weiteren Anträgen der CSV: Sie wurden mit den Stimmen der Mehrheit von DP, LSAP und Grüne abgebügelt. Teils unter ziemlich fadenscheinigen, pädagogisch zweifelhaften Begründungen. Der PDS sei „längerfristig“ angelegt, ein Projet d’établissement kurzfristig, heißt es. Tatsächlich steht im Gesetz eine Laufzeit von drei Jahren für den PDS, pädagogische Projekte dauern oft nicht länger. Déi Gréng hatten am Vorgängertext bemängelt, er gehe nicht weit genug. Im Schulausschuss war von ihnen, geradeso wie von der LSAP, deren Minister die Reform auf den Weg gebracht und während der Koalitionsverhandlungen seinerzeit energisch verteidigt hatte, wenig Kritik zu hören.
Dabei gäbe es genügend Anlass für Kritik. Bildungswissenschaftler betonen, dass mehr Verantwortung mit mehr Rechenschaft einhergeht. Meischs Reform sieht vor, dass die Entwicklungspläne alle drei Jahre evaluiert werden sollen, doch dies soll intern geschehen. Das heißt, die Schulen bestimmen über die Auswertung selbst. Wie da eine objektive Analyse möglich sein soll, ob die Schulen die gesetzten Bildungsziele erreichen, weiß wohl nur der Minister. Das neu geschaffene nationale Observatorium jedenfalls, das Empfehlungen für die künftige Bildungspolitik geben soll, darf Leistungen auf Schul- und Lehrerebene ausdrücklich nicht bewerten. Das hatten sich die Gewerkschaften verbeten und das Ministerium wollte keinen neuen Streit riskieren. Anders als in vielen anderen EU-Ländern gibt es hierzulande keine Aufsicht, die den Sekundarschulen auf die Fingern schaut; es ist die Schulleitung, die über die eigene Qualitätsentwicklung wacht.
Die Lehrergewerkschaft SEW sowie die Studentenorganisation Unel äußerten sich in einer gemeinsamen Pressemitteilung über die Reformpläne skeptisch, allerdings weniger wegen der fehlenden Rechenschaftspflicht. Vor allem die Gewerkschaft fürchtet angesichts der „autonomie trop poussée“ einen steigenden Konkurrenzkampf zwischen den Schulen und dass sich das Ministerium mit der Schulautonomie aus seiner Verantwortung stehlen will. Dass der Wettbewerb zwischen den Sekundarschulen zunimmt, zeichnet sich bereits ab: Immer mehr Schulen versuchen, sich durch eigene Akzente abzusetzen, sei es durch Englisch als Unterrichtssprache, Mathematik auf Deutsch, Baccalaureat international, A-Levels und so weiter.
Doch mehr Autonomie und Diversifizierung sind keine Wundermittel für guten Unterricht und bessere Bildungschancen. Das lässt sich in Österreich beobachten, das bereits Ende der 1990-er Schulen verstärkt auf Selbstverantwortung setzte: Altrichter schreibt im Österreicher Bildungsbericht 2015, es fehlten wissenschaftliche Beweise, dass „Schulautonomie zu einer verbesserten Qualität des Lernens beitragen“ würde. Er wähnt die Bildungsgerechtigkeit in Gefahr: Schulen träten in Konkurrenz „um die Ressource ,gute’ Schüler“, was soziale und strukturelle Ungleichheiten verstärke, „da vor allem Schüler aus sozioökonomisch bevorzugten Milieus und Schulen mit günstigen Voraussetzungen, im Sinne eines Matthäus-Effekts1, am meisten profitieren“. Schüler mit gebrochenen Schulkarrieren und hohem Betreuungsbedarf befänden sich dagegen „am häufigsten in Restklassen oder Restschulen, die durch weniger sorgsame Betreuung und Unterricht gekennzeichnet“ seien, so Altrichter. Alarmierende Befunde, die den Abgeordneten im Schulausschuss offenbar nicht bekannt waren, und auch von der LSAP, die sich Bildungsgerechtigkeit auf die Fahnen schreibt, nicht groß thematisiert wurden.
Das übernahmen die Fapel und die Lehrergewerkschaft SEW. In seinem Gutachten vom April, das unter Schwierigkeiten zustande kam, weil das Ministerium den Entwurf und die Ausführungsbestimmungen zunächst nicht zustellte, forderte der SEW deshalb, die Reform aufzuschieben. Land-Informationen zufolge waren sie damit nicht allein: Einige Schuldirektoren sollen sich gegenüber dem Minister ebenfalls für einen Aufschub eingesetzt haben. Die Schülervertretung formulierte ebenfalls Bedenken, allerdings deutlich zahmer. Bildungswissenschaftler der Uni Luxemburg äußerten sich zu den Reformplänen nicht weiter.
Im Rückblick spricht viel dafür, dass es der historisch gewachsene Korporatismus ist, der nun dazu führt, dass die Regierung die Reform so störungsfrei über die Bühne bringen konnte. Die empörten Lehrerkomitees von damals, respektive ihre Vertretung, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, sich in erster Linie für ihre Interessen eingesetzt zu haben; ihre inhaltliche Kritik an pädagogischen Zielsetzungen im Interesse von mehr Unterrichtsqualität scheint zweitrangig. Nachdem der Streit zur Lehrer-Tâche geklärt war, war jedenfalls kaum ein Mucks mehr zu hören. Dabei bleibt Meischs Reform auch hinter ihren Forderungen zurück. Einer der Hauptstreitpunkte war, neben einer verstärkten Betreuung, der Sprachenunterricht. Vor allem Sprachlehrer aus dem Classique hatten sich kategorisch gegen Unterrichtsangebote mit zwei Leistungsniveaus (de base, avancé) gewehrt, schließlich aber eingelenkt und für Classique-Schüler, die sich mit Sprachen schwerer tun, vorgeschlagen, auf didaktische Zweitsprachen-Konzepte zurückzugreifen. Der Kompromiss wurde nicht zurückbehalten.
Der Vorschlag der CSV, für Technique und Classique jeweils das Beherrschen einer Fremdsprache auf sehr gutem Niveau (C1) und einer auf gutem Niveau (B2) vorzuschreiben, wurde im zuständigen Parlamentsausschuss von der Regierungsmehrheit mit dem Hinweis abgelehnt, das käme einem „Paradigmenwechsel“ gleich. Da reibt sich der Beobachter erstaunt die Augen: War dieser Minister nicht angetreten, genau da, beim Sprachenunterricht, anzusetzen und ein einheitliches Konzept vorzulegen? Das liegt bis heute nicht vor. Somit fehlt der Reform ein Herzstück, weswegen sie ursprünglich auf den Weg gebracht wurde. Um die heiße Kartoffel darf sich die nächste Regierung kümmern. Spätestens dann dürfte es mit der Friedhofsruhe wieder vorbei sein.
Einige Kernpunkte der Sekundarschulreform
Die Hauptfächer Sprachen und Mathematik werden im unteren Zyklus des Technique auf zwei Leistungsstufen angeboten. Grundsätzlich braucht es dort zum erfolgreichen Bestehen eine Sprache auf C1-Niveau und eine auf B2-Niveau (nach dem Europäischen Sprachen-Referenzrahmen). Im Classique ist diese Option nicht vorgesehendort gilt für beide Sprachen das Niveau C1. Englisch wird im Technique weiterhin nicht verbindlich auf 7e eingeführt.
Es wird eine Sektion Informatik und Kommunikation geschaffen. Insgesamt soll es mehr Gestaltungsfreiraum bei den Sektionen und beim Angebot von Wahlfächern geben. Das wird auf sechs schriftliche und zwei mündliche Prüfungsfächer begrenzt.
Schulen müssen alle drei Jahre einen Entwicklungsplan mit pädagogischen Zielen zu sieben verbindlichen Themenfeldern vorlegen: Betreuung und Nachhilfe (dabei darf auch Peer-Training zum Einsatz kommen)Unterstützung von Schülern mit besonderem erzieherischem Förderbedarfpsychosoziale AssistenzOrientierungZusammenarbeit mit den ElternICT (E-skills)außerschulische Betreuung (künftig kostenpflichtig). Das Ministerium gibt Leitlinien vor.
Für Schüler mit Behinderungen wird eine Commission d’inclusion scolaire eingesetztdie wie in der Grundschule in Absprache mit den Lehrern und den Eltern bedürftigen Schülern ein individualisiertes Ausbildungsangebot machen soll. Allerdings kritisiert der Oberste Rat für behinderte Personen die Pläne als ungenügend. Ein neuer Service socio-éducatif soll sich um Schulabbrecher kümmern.
Ansonsten erfolgen allerlei Umbenennungen: Aus dem Enseignement secondaire technique wird der Enseignement secondaire généralehemaliger EST und Classique werden gleich durchnummeriert und enden mit dem Première-Examen. Der schulpsychologische Dienst Spos wird zum Service psycho-social et d’accompagnement scolairedie Orientierung wird von einer schulinternen Orientierungszelle koordiniert und entlang von bereits veröffentlichten Richtlinien modernisiert.