Es hat einigen Anlauf und Hartnäckigkeit gebraucht. Mathematiklehrer um den beigeordneten Direktor Yves Mentgen am Maacher Lycée, wie die technische Sekundarschule in Grevenmacher heißt, hatten vor über zehn Zeit beobachtet, dass viele ihrer Schüler im unteren Zyklus große Schwierigkeiten mit dem Rechnen hatten. Aber nicht, weil sie keinen Begriff von Zahlen hatten und Mathe ihnen sowieso nicht lag, sondern weil ihnen die Wörter fehlten, um die französischsprachigen Aufgaben zu verstehen.
„Es lag nicht an der Mathematik. Die Schüler hatten sechs Jahre lang in der Grundschule Mathe auf Deutsch, und plötzlich, in der 7e, sollten sie auf Französisch wechseln“, beschreibt Yves Mentgen das Problem. „Das überfordert viele, zumal sie sich erst in einer neuen Umgebung und in der neuen Klassen zurechtfinden müssen“, pflichtet Französischlehrerin Elise Biver dem Kollegen bei.
Die Grevenmacher Sekundarschullehrer berieten, was sie tun könnten: Warum nicht Mathe auf Deutsch unterrichten? „Ein Großteil der Technique-Schüler wechselt nach der 9e ohnehin in die Berufsausbildung. Dort haben sie Fachrechnen auf Deutsch. So könnten sie sich auf Mathe konzentrieren“, erklärt Mentgen die Überlegung hinter der Idee. Nicht jeder im Kollegium teilte diese Meinung, manche Kollegen sorgten sich um den Anschluss an die Oberstufe, doch eine Gruppe von Mathelehrern fasste sich ein Herz und schrieb einen Antrag für ein pädagogisches Konzept. Es ist am Erziehungsministerium, dieses zu bewilligen. Oder nicht.
Der damaligen Ministerin Mady Delvaux (LSAP) schien der Vorstoß zunächst zu verwegen. Besser wäre es, die Französischkompetenzen der Schüler auszubauen, empfahl sie stattdessen, schließlich war Französisch gesetzlich als Unterrichtsprache vorgeschrieben. Dabei hatten die Pisa-Resultate für Luxemburg deutlich gezeigt: Der herkömmliche Sprachenunterricht wirkte für viele Schüler nicht als ein Vorteil, sondern bremste sie in ihrer Bildungslaufbahn zunehmend aus.
Auch einen zweiten Anlauf der Hartnäckigen nahm Delvaux nur zögerlich auf, obwohl die Sozialistin die Sprachenpolitik zu einem ihrer Reformschwerpunkte gemacht hatte. 2014 dann, als im Rahmen der Vorarbeiten zu einer Sekundarschulreform Pläne im Ministerium kursierten, Schulen mehr Autonomie zu geben und die Sprachangebote auszudifferenzieren, gab es grünes Licht für ein Pilotprojekt: „Uns wurde aber auferlegt, Französisch zu fördern, damit die Schüler nicht den Anschluss verlieren, und das Projekt wissenschaftlich begleiten zu lassen“, erinnert sich Yves Mentgen.
Die Grevenmacher Lehrer, die sich am Projekt beteiligten, entschieden sich also, zweigleisig zu fahren: Schüler würden in der 7e und 8e im unteren Zyklus Rechenaufgaben auf Deutsch bekommen und lösen, nach und nach würden sie mit französischen Fachbegriffen vertraut gemacht, so dass am Ende der 10e der Übergang auf die Oberstufe möglichst reibungslos geschehen möge. Diese Kombination, Français plus als Vertiefung neben Mathe in Deutsch anzubieten, ist heute eine Besonderheit des Grevenmacher Lyzeums. Von ihm abgesehen, gibt es ein ähnliches Projekt bislang nur in Redingen.
Dass sich viele Schüler leichter mit Mathe tun, wenn sie nicht in Französisch rechnen müssen, war Sprachforschern um Bildungswissenschaftlerin Sonja Ugen von der Uni Luxemburg beim internationalen Bildungstest Pisa aufgefallen: 15-Jährige können dort wählen, ob sie die Testaufgaben lieber auf Deutsch oder Französisch machen wollen. Sogar Schülern, denen eine größere Affinität zu Französisch nachgesagt wurde, entschieden sich mehrheitlich für Deutsch als Testsprache.
Französischlehrerin Elise Biver versucht zu erklären: „Viele haben schon in der 7e die Nase voll vom Französischunterricht. Sie sind demotiviert, wenn sie merken, dass sie auch mit anderen Fächern Probleme haben, nur weil die Unterrichtssprache auf der Sekundarstufe Französisch ist“. Dadurch riskiere die Schule, „die Talente von Schülern, die nicht so stark in Sprachen, aber dafür in der Mathematik sind“, zu übersehen, so ihre Einschätzung
Das gilt nicht nur, aber besonders für luxemburgischsprachige Jugendliche. „Bei Sprachproblemen und Schulversagen denken viele an Einwandererkinder“, so Yves Mentgen. So sei die Mathe-Onlineplattform Mathematics.lu in der Grundschule dreisprachig konzipiert, damit auch nicht-luxemburgische Kinder, die in den meisten Grundschulen inzwischen die Mehrheit ausmachen, die Rechenaufgaben verstehen.
„Wir machen die Beobachtung, dass die Luxemburger genauso mit dem System hadern, nur ist es bei ihnen nicht Deutsch, sondern Französisch“, so Mentgen. Schuld daran ist nicht zuletzt ein Sprachenunterricht, der den Jugendlichen die Sprache eher verleidet, als ihre Neugierde zu wecken, weil der Fokus zu sehr auf Regeln pauken und abstrakte Grammatik gesetzt wird, statt den Unterricht durch eine altersgemäße anwendungsorientierte Didaktik interessant zu gestalten. Selbst in der Mathe ist diese unterschiedliche Herangehensweise sichtbar: „In Deutsch sind die Aufgaben eher problemlösungsorientiert und nicht so formalistisch“, findet Mentgens Bruder und Kollege, Claude Mentgen.
Mit Aktivitäten in Französisch-Vertiefungskursen sollen Schüler die Hemmung gegenüber der Sprache verlieren. „Bei mir lernen die Schüler die Sprache eher spielerisch und im kommunikativen Kontext“, sagt Elise Biver, die als eine von acht Lehrern die Français-plus-Kurse betreut. Manchmal fährt sie mit Schülern nach Frankreich oder Belgien zum „Praxistest“.
28 Schüler besuchen derzeit die Mathematikklassen des Maacher Lycées (die Schule einigte sich 2014 darauf, nicht mehr als ein Drittel der Kurse in Deutsch anzubieten), und die ersten Ergebnisse sind ermutigend: Beim landesweiten Mathewettbewerb Maach Mat(h) gelang den Grevenmachern der Einzug ins Finale, wo sie den dritten Platz belegten, ein Jahr darauf kletterte dasselbe Team auf das Siegertreppchen. In qualitativen Interviews mit Forschern der Uni Luxemburg, die über drei Jahre das Mathe-Projekt analysieren und auswerten sollen, erzählen Schüler, dass sie aufblühen, weil sie sich auf Mathe konzentrieren können und sich nicht durch das Französisch gehemmt fühlen.
Allerdings, räumt Mathelehrer Claude Mentgen ein, „die meisten wissen schon, dass ihre Schwächen im Französischen nicht behoben sind, sondern im Grunde verschoben.“ Den Zeitaufschub verstehen die Lehrer gleichwohl als Chance: „Schüler haben Erfolgserlebnisse in Mathe und wir gewinnen so Zeit für das Französisch-Lernen. Allerdings hätten wir uns schon gewünscht, das Projekt bis zur 13e durchziehen zu können.“
Wer weiß, vielleicht wird auch das eines Tages möglich. Das Attert-Lycée in Redingen, das seit diesem Schuljahr ebenfalls Deutsch-Matheklassen bis zur 10e anbietet, bekam das Projekt genehmigt, ohne parallel Intensivkurse in Französisch anbieten zu müssen, ein deutliches Zeichen, dass der aktuelle Minister Claude Meisch (DP) die französische Unterrichtssprache nicht mehr als absolut versteht.
Im Lycée Technique du Centre sind die Verantwortlichen ebenfalls hellhörig geworden und wollen für nächstes Schuljahr ein ähnliches Angebot in ihr Programm aufnehmen. Auch eine Schule aus dem Norden hat sich im Februar von den Grevenmacher Kollegen die Initiative erklären lassen. „Ob sie sie übernehmen, weiß ich nicht. Wir machen jedenfalls weiter, so lange es eine Nachfrage gibt“, sagt Yves Mentgen entschlossen.