Kino

Aus dem Leben eines Teenagers

d'Lëtzebuerger Land vom 14.06.2019

Die Dardenne-Brüder sind in Frankreich bekannt geworden durch eine spezielle Form des Sozial-
dramas. Mit Blick auf die Ausbildung der beiden – Luc hat Sozialphilosophie studiert, Jean-Pierre Film – lässt sich unschwer ablesen, dass ihr Werk einen starken ethisch-moralischen Anspruch hat. In den 80ern fließen diese Tendenzen in ihr Werk ein, die zuvorderst grundsätzliche Fragen nach der richtigen Lebensweise verhandeln. Obwohl von Nationalität Belgier, sind sie hauptsächlich über Frankreich rezipiert und international bekannt geworden. So wurden sie bereits zweimal in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet (Rosetta, 1999; L’enfant, 2005) und wurden seither zu einem äußerst renommierten Aushängeschild für das europäische Kino.

Mit Le jeune Ahmed widmen die Filmemacher sich nun dem Thema der islamistischen Radikalisierung: Der junge Ahmed, 13 Jahre alt, führt ein einsames, isoliertes Leben. Der Vater fehlt, die Mutter ist verzweifelt angesichts der zunehmenden Abschottung ihres Sohnes. Ahmeds Vorwurf, sie solle sich wie eine wahre Muslimin verhalten, macht sie fassungslos. Die fehlende väterliche Bezugsinstanz findet Ahmed in seinem Imam, der ihn mit seinen Reden schnell für sich zu gewinnen weiß. Ahmed ist nun hin- und hergerissen zwischen den Idealen der Reinheit seines Imams und den Bedürfnissen des Lebens...

Die Gebrüder Dardenne konfrontieren ihr Publikum hier einmal mehr mit ethisch-philosophischen Fragen und fordern es implizit auf, dazu Stellung zu nehmen. Vor allem in Rosetta, L’enfant und Le gamin au vélo (2011) mögen die Umstände der Charaktere ebenfalls hart sein, aber da spürt das Publikum doch einen inhärenten Optimismus in diesen Geschichten, während bei Ahmed der Optimismus einer unabwendbaren Tragik weichen muss. Im Gegensatz zu einem Film wie Le gamin au vélo, der zeigt, was der positive Einfluss eines Erwachsenen auf die Lebenserfahrungen eines Jugendlichen ausmachen kann, zeigt Le jeune Ahmed einen Jugendlichen, der in einem Spannungsverhältnis zwischen konkurrierenden Vorbildern gefangen ist. Auf der einen Seite steht die muslimische Lehrerin Inès, die Ahmed das Lesen beigebracht hat und möchte, dass ihre Schüler Arabisch auch aus anderen Quellen als dem Koran lernen; auf der anderen Seite ist der Imam, der die Lehrerin als Apostatin sieht. Ahmed glaubt, indem er die erzieherischen Intentionen seiner Lehrerin als Blasphemie missversteht, auf eigene Faust Gerechtigkeit üben zu müssen.

Mit Idir Ben Addi haben die Gebrüder Dardenne einen Schauspieler im Teenageralter gefunden, der in seiner nüchternen und dezenten Spielweise in dieser Rolle wie direkt aus dem Leben gegriffen scheint. Das ist eine intensiv gespielte Hauptfigur in einem sozial realistisch dargestellten Leben in der Region um Lüttich, wie so oft der Handlungsschauplatz bei den Dardennes. Dem naturalistischen Stil der Regisseure ist es zu verdanken, dass der scharfe Kontrast zwischen hetzerischer, kriegerischer Propaganda und Ahmeds Alltagsrealität spürbar wird, ohne dabei aufdringlich moralisierend zu werden. Das präsentieren sie uns in einer gewohnt diskreten Haltung: Diese Bilder vermitteln einen intimen Realismus, der als solcher freilich wieder hochgradig filmisch konstruiert ist, besonders die fehlende Filmmusik und die schultergetragene Kamera haben erheblichen Anteil an diesem Effekt: Wenn Ahmed zur Tat schreiten will, sehen wir alles aus einer geradezu verschobenen Perspektive auf das Geschehen, nämlich mit Blick auf die Figuren, so als würden wir als Zuschauer direkt daneben stehen. Das schafft eine Intensität, der man sich als Zuschauer kaum entziehen kann. Dabei wird der Film nie zu subjektiv, nie zu vertraut und wahrt stets kritische Distanz, die zum Nachdenken anregen soll. Darin liegt einmal mehr die bemerkenswerte Leistung der Gebrüder Dardenne.

Marc Trappendreher
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