„Du musst dich unbedingt bei Tinder anmelden!!!“, sagt meine Freundin aufgeregt, holt ihr Smart-Phone hervor. „Tinder?“, frage ich. Ich habe keinen blassen Schimmer, was Tinder ist, bin anscheinend nicht mehr auf dem Stand der Dinge. Ob es daran liegt, das ich für die Dauer meines Urlaubs mein Facebook-Konto geschlossen habe, um mich weniger gehetzt und verfolgt zu fühlen? Tinder, erfahre ich, ist die neueste Sozialmedien-App, um Leute kennenzulernen und zu chatten. „Da sind jetzt alle“, erklärt mir meine Freundin, zählt an ihren Fingern ab, wen sie alles bei Tinder kennt. „Das ist gar nicht peinlich“, wehrt sie ab, als ich die Stirn runzele. Anders als das ursprünglich Web-basierte Facebook ist Tinder eine mobile Smart-Phone-App, die Facebook-Daten und Ortsbestimmung nutzt. Wer auf Tinder ist, kann sehen, wer in einem zu bestimmenden Radius ebenfalls auf Tinder ist. Und, wenn sich beide gegenseitig grünes Licht geben – „it’s a match“ –, anfangen zu chatten.
Aha-Effekt Der wirkliche Aha-Effekt stellt sich Tage später im Gespräch mit einem männlichen Bekannten ein. „Tinder ist das Hetero-Grindr“, sagt er mit Hinweis auf die App, die Homosexuelle nutzen, um sich zum Sex mit Fremden zu treffen, die in der Umgebung disponibel sind. Seine Freunde sind nicht ganz zufrieden mit den Ergebnissen. Wirklich? Kann es sein, dass im Marienland eine Sex-App Trend ist? Ich bin wirklich nicht mehr auf dem Stand der Dinge. Wie soll das überhaupt gehen, Sex mit Fremden, wenn doch jeder jeden kennt? Könnte, wer in Luxemburg ein Tinder-Profil erstellt, sich nicht ebenso gut ein Schild mit der Aufschrift „Beischlaf, bitte!“ umhängen und damit Samstagsmorgens über den Wochenmarkt auf dem Knuedler schlendern?
Grenzpendler-Effekt Offensichtlich nicht ganz. K., 34, ist auf Tinder, weil er eine Beziehung sucht und er in Luxemburg „jeden kennt“. Die Zahl seiner Facebook-Freunde ist vierstellig, auf Tinder kenne er in Luxemburg trotzdem fast niemanden. Er führt das auf die vielen Expats und Grenzpendler zurück. Mit Tinder hat er sozusagen das Reservoir für neue Bekanntschaften erweitert. Andererseits, sagt er, werde das Ganze zu einer Art „Supermarkt“. „Du weißt einfach nicht, wer die Leute sind, ohne wenigstens ein gutes Foto, ein paar ‚gemeinsame Interessen’ oder mindestens einen Satz Beschreibung, ist es völlig ohne Charme.“ Mit welchen Ziel, sich die Leute anmelden, kann er nicht einschätzen. Drei seiner 20 „matches“ hat er getroffen, zu einem zweiten Treffen ist es nicht gekommen. Eine davon, glaubt er, war enttäuscht, dass es nicht sofort zur Sache ging. Die anderen schätzt er eher umgekehrt ein.
Zigarren und Posh Spice Er, wie die vier anderen Männer, die mit mir über ihre Tinder-Eindrücke reden, haben allesamt mehr oder weniger Erfahrung mit anderen Online-Dating-Sites. Der große Unterschied: Statt Fragebögen und Persönlichkeitstests auszufüllen, reduziert sich der Informationsgehalt bei Tinder auf ein Foto, Name und Alter. Aufgrund der Facebook-Verbindung handelt es sich um richtige Namen, was wohl vor allem Frauen die Gewissheit geben soll, dass sich hinter Pseudonymen keine Psychos verstecken. Dass nur miteinander reden kann, wer sich gegenseitig mag, nicht erfährt, wer sonst noch das Profil geliked hat, soll wohl ebenfalls dazu führen, die Dating-App weniger schmierig und salonfähiger zu machen. Unter dem Bild ist jeweils links ein rotes Kreuz für „Nein“ und rechts ein grünes Herz für „Ja“. Sortieren tut man, indem man mit dem Daumen nach links oder nach rechts wischt, so als ob man Spielkarten verteilt. Trotz spärlichem Informationsgehalt sagen die meisten Fotos alles aus, was man wissen muss: 90 Prozent der Männer, die nachmittags im Umkreis von 20 Kilometern in der Hauptstadt auf Tinder sind, rauchen entweder Zigarre (Nein), posieren neben einem teuren Auto (Nein), springen Bungee oder Fallschirm (Nein), machen Schmollmund à la Victoria Beckham (Nein), zeigen sich in Speedos (Nein), zitieren Rilke (das darf nur Jean-Claude Juncker ungestraft, Nein), fordern auf, „den Moment zu ergreifen“ (Nein!), waren mit mir auf der Schule (Muhaha! Nein). Oder zeigen ein Familienporträt, Mann, Frau, Kinder (Wie bitte? Nein!) beziehungsweise, sie halten ihr Neugeborenes stolz in die Kamera (Geht’s noch? Nein, Nein, Nein!).
Sicherheitshinweis „Die haben nicht verstanden, dass Tinder eine Hook-up-App ist“, sagt R., 33 als ich ihn treffe. Die Kinderfotos erklärt er sich durch die achtlose Verknüpfung von Facebook und Tinder-Profil. „Verantwortungslos“ findet er das. „Die Kinder hat sicher niemand gefragt, ob sie ihr Bild auf einer Hook-up-App haben wollen.“ Die Frage, wie man ein Foto, grünes Herz (hot), rotes Kreuz (not), missverstehen kann, können wir nicht restlos klären. Auch er sucht richtige Bindungen, der Sex-Faktor ist sekundär. Vielleicht scheint er deshalb ein wenig aufgebracht, dass ich die Tinder-Männer nicht ernst nehmen kann – bis ich ihm ein paar Beispiele zeige. „Naja, die Frauen sind nett.“ Auch I., 37 kann über das „Männer-Angebot“ nicht ganz so laut lachen, wie ich. Er ist mein einziger „Match“ in 24-Stunden experimenteller Tinder-Präsenz. Das ist geschummelt – wir kennen uns im richtigen Leben. Statt über Tinder zu chatten, telefonieren wir deshalb. Ein wenig besorgt fragt er, wie ich sein Profil finde. Auf seinem Foto sieht es aus, als ob er etwas liest und er lacht relativ natürlich. Was soll ich dazu sagen? „Hm. Wirkt halbwegs zurechnungsfähig.“ Die Zigarren und teuren Autos der anderen erklärt er mir wie folgt: „Es ist ohnehin so oberflächlich – du hast nur ein Bild – die wollen zeigen, dass sie Geld haben.“ Tinder-Date hat er noch keins gehabt, dafür aber andere Online-Dates im richtigen Leben getroffen. Binnen weniger Sekunden sei klar gewesen, dass daraus nichts wird...
Instant gratification Denn trotz aller Unverfänglichkeit, die Apps wie Tinder bieten – wie jemand spricht, sich bewegt oder riecht, ist übers Internet nicht zu vermitteln. Vielleicht gibt es deshalb so wenig reale Begegnungen. Wer nur chattet, kann in den anderen hinein projizieren, was er oder sie will. Vielleicht liegt es aber auch an den unterschiedlichen Erwartungen, mit denen sich die Leute anmelden. K., 34, männlich, sagt, er sei verschlossen. Er erwartet sich von Tinder, dass ihn eine Frau anspricht, auf ihn zukommt. B. und T., ebenfalls 34, fanden es anfangs vor allem witzig, die Bilder anzusehen, Männer zu sortieren. „Es gibt viele Leute auf Tinder, die sich ein bisschen umschauen wollen, „liken“ und sich zeigen. Sie suchen alle, einschließlich mir, nach einer Form von Bestätigung – ,hey! You are so great!’“, sagt B. Das sei auf Tinder einfacher als im richtigen Leben. „Und man hat ein Glücksgefühl, wenn man ein match hat“. Voyeurismus spielt eine Rolle. T. meint, es sei ein wenig, wie in einer Boulevardzeitung zu blättern. „Es gibt dir ein gutes Gefühl, wenn der, den du gut findest, dich auch gut findet. Auf Tinder kann jeder sein Ego, wann immer ihm danach ist, ein bisschen streicheln lassen.“ Viel weiter gehe es allerdings nicht. Mit den wenigsten matches sind die beiden auch nur virtuell ins Gespräch gekommen. T. findet vieles belanglos und langweilig. Einer war B. zu aufdringlich. Mit einem anderen diskutiert sie via E-Mail freundschaftlich über Musik und Tomatenanbau.
R., 33, hat eine Standard-Eröffnungsformel für den Chat, um erst einmal die gemeinsame Sprache zu klären. Aus Höflichkeits- und Effizienzgründen. „Man investiert ja Zeit darin.“ Dabei gibt er zu: „Die meisten Männer nutzen Tinder so“, streicht Bild nach Bild nach Bild nach rechts. Alles Likes. „Wieso?“, frage ich, sehe mit Entsetzen mein Foto auf seinem Bildschirm. Ich muss dringend dieses Profil löschen! „Um möglichst viele Matches zu haben. Und dann, mal sehen.“ „Es hat durchaus seinen Sinn, wenn man ein Maximum an Leuten treffen will“, sagt K. „Es ist aber auch eine Metapher für unsere Gesellschaft, in der wir endlos viel Auswahl haben, alle zwei Sekunden abgestempelt werden und permanent unter Konkurrenzdruck stehen.“