USA, Sommer 1972

Gast von Rotary

d'Lëtzebuerger Land du 18.12.2020

„She’s so cute!“ Ein fetter Kuss platscht auf meine Wange, kaum dass ich aus dem Zug ausgestiegen bin. Die Küsserin ist eine kleine, faltige, stark geschminkte Dame mit dem offensiven Charme der Nachbarin aus Rosemary’s Baby. Neben ihr steht ein silberhaariger Gentleman mit einem edlen Antlitz. Es ist meine amerikanische Gastfamilie, die hier auf dem kleinen Provinzbahnhof von Washington, New Jersey, auf mich wartet.

Sommer 1972, ich habe mich von meiner Mutter überreden lassen, zwei Sommermonate meines Lebens den USA zu opfern. Als Gast des Rotary-Clubs wo ich Luxemburg vertreten soll, wie ich am Einführungsabend beklommen erfahre. Eine Art Botschafterin Luxemburgs? Wo ich doch gar nichts über Luxemburg weiß, außer dass ich raus will, und das so schnell und so weit wie möglich. Und auch noch in den feindlichen USA, dem Hort von Kapitalismus und Imperialismus? Schließlich bin ich Marxistin, vielleicht sogar Maoistin. Doppelheuchlerin also? Vielleicht könnte ich wenigstens in schwarze Slum-Familien? Die sind aber nicht bei Rotary, und die laden keine ausländischen Studierenden ein. Die Maoistin willigt ein, immerhin kann sie so das Innere des Monsters erforschen, rechtfertigt sie sich vor sich selber.

Auf der Fahrt in mein neues Heim kommen wir durch den etwas unspektakulären Ort. Washington, New Jersey. Gerade Straße, ein paar Querstraßen, Geschäfte, Tankstellen, Milkbars. Dann fahren wir an von Rasen bewachsenen Grabhügeln vorbei, kurzgeschoren wie GI-Schädel. Auf den Grabhügeln thronen einander stark ähnelnde Einfamilienhäuser. Dahinter blitzt meist ein blitzblaues Rechteck auf, der Swimming Pool.

Neidisch habe ich auf meine Mitbotschafter_innen aus Europa geschaut. Ihre Zielorte heißen Virginia, Georgia, Oregon. Allein schon der Klang. California! Oder wenigstens Texas mit bösen weißen alten Männern. Chicago mit Mafia. New Jersey klingt nach nichts.

Wir erreichen eine über dem Ort gelegene baumumstandene alte Villa, mit einem Schlag bin ich einen Haufen Vorurteile los. Amerikaner_innen haben keinen Geschmack! Also zumindest nicht unseren, und gibt es denn einen andern? Das Haus mit seinen Glasfronten, seinem Kamin, seinen Schaukelstühlen ist mit erlesener Behaglichkeit ausgestattet. Die meisten Häuser, die ich kennen lerne, sind großzügig geschnitten, bequem eingerichtet, Häuser zum Leben, viel gemütlicher als die steifen Living Rooms bei uns.

Mein Gastgeberpaar stellt sich als schon ewig verliebtes frisch verheiratetes Pärchen vor. Nachdem ihre Ehegesponste das Zeitliche gesegnet haben, sind sie endlich frei für die Liebe. Sie nennen einander ausdauernd darling, ich gnadenlose Jugendliche wundere mich, dass die faltige Frau aus Rosemary’s Baby diesen Silberhaarkavalier so nachhaltig betört hat. Aber angenehm in der Aura der Liebe den Toast und die Flakes zu verspeisen, die sie mit so viel Hingabe für mich bereitstellen. Das und Lunch und Dinner, das ist es dann aber auch schon, viel mehr läuft nicht in der Villa, die ich jetzt für zwei Wochen mit den Turteltäubchen teile. Ab und zu kommt Bob auf Besuch, der kugelrunde Anwaltsohn von Maggy, ein Mittdreißiger mit Halbglatze der keine Frau findet, wie mir Maggy vertraulich mitteilt. Einmal tauchen die langhaarigen Söhne von Joe auf um mich nachsichtig wie große Coole eine altmodische kleine Streberin zu beäugen. Dann hauen sie ab und lassen mich allein mit den Alten.

Natürlich bin ich nicht da um Malcolm X zu lesen oder Timothy Leary. Damit mir nicht fad wird, gibt es ein Programm für mich. Beinahe täglich kreuzt irgendein Sechzigjähriger auf, um mir Amerika zu zeigen. Auf der Autobahn legen wir Hunderte von Kilometern zurück, dann werde ich durch ein besonders beeindruckendes Shopping-Center geschleift. Gibt es das in Luxemburg? Gibt es Autobahnen in Luxemburg? Autos? Swimming-Pools? Am glücklichsten wären sie, gäbe es all das nicht. Durch verdunkelte Autofenster schaue ich sehnsüchtig in die tonlose Welt draußen, die wirkliche Welt. Ich sehe Bergketten und ahne eine ungeahnte Weite, die ich aus Europa nicht kenne.

Ein Fabrikbesitzer zeigt mir seine Fabrik. Die Vorarbeiter werden mir vorgestellt und ich ihnen. Hi! sagen sie zu ihrem Boss, how are you? sagen sie einander. Darauf ist der Boss mächtig stolz, aber ich durchschaue den extraperfiden kapitalistischen Trick. Ich schaue den Arbeiter_innen beim Arbeiten zu, was ich sehr obszön finde. Einmal tuckere ich mit Achtzigjährigen in einem albernen Wägelchen über eine löcherige Rasenlandschaft, Golf heißt das Vergnügen. Meine Spielgefährtinnen tragen rosa Spielhöschen, sie schauen aus wie Bonbons, süß. Einmal gehen wir blasse Amish People anschauen, die uns zugeknöpft Souvenirs verkaufen. Kulturell ausgehungert wie ich bin, beklatsche ich Kiss me Kate auf einer Kleinstadtbühne, obwohl ich Musicals hasse.

Seltsamerweise ist Maggy Sozialarbeiterin. Sie nimmt mich zu Hausbesuchen mit, in leblosen Küchen sitze ich jungen einsamen Müttern gegenüber. In Philadelphia besuchen wir ihre Adoptivtochter, eine blasse übergewichtige Frau, die ihr zweites Kind erwartet. Sie könne ihr nicht wirklich helfen, sagt Maggy. Schuld wäre das Welfare Programm.

Einmal in der Woche begleite ich meine Gastoldies zu ihrem Rotary-Club-Treffen. Es gibt dort nur Männer. Die Crème de la Crème von Washington, New Jersey. Der Tankstellenbesitzer, der Apotheker, der Arzt, alle möglichen Besitzer von etwas. Die meisten sind über sechzig. Es sind exklusiv Bleichgesichter. Ich soll ihnen etwas über Luxembourg erzählen. Ich habe fürchterliches Lampenfieber und habe meine arme Mutter beauftragt, mir Historisches aus Luxemburg zu schicken. Johann der Blinde, die Burgunder, die Festungsgeschichte usw. Meine Mutter schickt Wälzer in kaum entzifferbaren Schriften über den Atlantik. Aber wie auch immer ich meine Ansprachen beginne, ich lande gleich bei der Abtreibung. Dass es sie nicht gibt in Luxemburg! Dass Frauen nach Holland müssen und die Polizei hinter ihnen her schnüffelt. Seltsamerweise verstört das die älteren Herren nicht und sie verstoßen mich nicht. Im Gegenteil, sie kriegen nicht genug von mir. Ein paar old boys sitzen immer neben mir und erzählen mir mit glänzenden Augen von der Rundstedt Offensive. Sie erzählen von Panzern und zerbombten Orten und ich sage Oh yeah? mit genauso glänzenden Augen, das macht sie happy. Die andern wollen immer wieder wissen ob es in Luxemburg Cola gibt. Niemand kontrolliert historische Jahreszahlen.

Ich werde herum gereicht und manchmal abends eingeladen. Ich werde geküsst und für cute befunden. Die Heuchelfloskel „Nice to meet you“ geht mir schon locker über die Lippen, die Micky-Maus-Quietschstimmen der amerikanischen Frauen sind schon ganz normal geworden, vielleicht hab ich auch schon so eine? Am Kamin trinke ich Whisky Sour, mein neues Leibgetränk. Meine Lieblingsdroge Kaffee ist leider ungenießbar. Abends in meinem Zimmer lasse ich die Cheese-Maske fallen, die Gesichtsmuskeln schmerzen vom Dauersmilekrampf.

Meine Gastoldies organisieren einen Chauffeur für mich, der einen Ausflug nach New York State mit mir unternimmt. Er sei schwarz, aber sonst ganz ok. Ein schöner Mann holt mich ab, ich fühl mich gleich wohl. Endlich kann ich mit jemand normal sein, ich muss nicht alles gorgeous finden und nicht dauernd cute sein. Durch dichte Wälder driven wir in die Berge, unten schlängelt sich der sonnendurchblitzte Indianerfluss.

Nach zwei Wochen übersiedele ich zu dem Tankstellenbesitzer und seiner Frau in die Rasenpampa. Sie sind italienischstämmig, die Frau kocht toll italienisch-amerikanisch. Ich esse immer großartig in den Staaten, alles ist groß, die Maiskolben, die Kartoffeln, die auch noch süß, die Putenschenkel. Ich sicher bald dick, das Essen ist mein einziger Trost. Die Frau putzt den ganzen Tag, das leere Haus mit den zwei Garagen, und ich fühle mich verpflichtet mit zu putzen. Es gibt sowieso nichts zu tun. Ich sauge Staub vor mich hin, misstrauisch beäugt von meiner Gastgeberin, sie traut meinem Gesauge nicht. Sie mag mich nicht. Beim Frühstück, wo ich in Hot Pants auftauche und ohne BH, mit Beinen haarig wie die von Crumb-Heldinnen versuche ich das Tankstellenbesitzerpaar zu Maos Arbeitsethos zu bekehren, während ich mich mit amerikanischem Breakfast vollstopfe. Das ist alles eine große Prüfung für die Katholikin. Manchmal sagt sie ich solle mich zum Pool setzen, der einsam wie auf einem Hopper Gemälde auf dem Grabhügel liegt. Lieber verkrümele ich mich mit einem Buch, irgendwohin wo es ein paar Bäume gibt, flammend rote. Sie geht spazieren, wird über mich gemunkelt. Mit einem Buch. Mein Verhalten ist abwegig, meine Wege, hier schnurgerade Straßen, sowieso. Ich versuche etwas zu entdecken. Ich trinke Milk-Shakes in Milk Bars. Endlich komme ich in eine Ecke, in der Schwarze auf Schaukelstühlen auf Veranden sitzen. Ich würde mich gern zu ihnen setzen. Einmal kommen die High School-Söhne mich beglotzen. Nachts unter der Mega-Madonna unter der ich schlafe schmiede ich Fluchtpläne. Ich haue ab, nach San Francisco. Zu Anti-Vietnam-Demos. Zu Anti-Nixon-Demos. Aber dann denke ich an Maggy und Joe und an meine Eltern und die netten Old Boys. Vielleicht bin ich zu feige.

Die letzte Station ist bei einem netten, aber todlangweiligen Ehepaar. Er arbeitet immer, und wenn nicht, ist er unsichtbar. Die beiden Schulkinder sind kaum wahrnehmbar. Sie ist Französin, wir reden Französisch und über ihre Normandie, von der ich außer Kühen und Kirchen nichts weiß. Einmal fahren wir zum Atlantik, in den die Kinder und ich sich stürzen. Dann essen wir gigantische Meeresfrüchte und trinken eine Art Kaffee aus Pappbechern dazu.

Es ist vollbracht, ich habe eine Woche zur freien Gestaltung, ich bin frei. Ich trampe 600 km nach Massachusetts, wegen dem Song der Bee Gees. Auf Cape Cod teile ich mir mit einer Schottin eine Jugendherberge. Wir liegen am Septemberstrand und essen Müsli und Sojasprossen in artigen Hippie-Lokalen. Es ist ein braves verschlafenes Hippie-Städtchen mit teuren Hippiekram-Shops.

Endlich New York! New York sei schrecklich verkommen, überall Schwarze mit Drogen, haben meine Rotary-Friends gewarnt. Das klang verheißungsvoll. Im Hotel treffe ich meine von ihrem Aufenthalt schwärmenden Mitbotschafter_innen. Alles Mögliche sollen wir noch sightseen. Einmal fahre ich mit ins große Washington, um ein kleines weißes Haus zu sehen und eine Lincoln-Statue. Ich vertschüsse mich und laufe herum auf der Suche nach dem wahren, wilden, schwarzen Leben. Ab jetzt schwänze ich alles. Ich laufe in der New Yorker Saunahitze durch Straßen mit Nummern, alles ist gerade und eckig und rechteckig, Dampf steigt aus Kanalgittern auf. Ich sehe nur das Notwendige, weil ich aus Eitelkeit keine Brille trage. Die Wolkenkratzer aber schon. Und die schwarzen Riesen mit den Riesencolts vor den Supermärkten. Auch die überall herum liegenden Obdachlosen. Aus einem Kellergeschäft schreit mir ein verschrumpeltes Männchen hinterher. Ich hätte Krampfadern, er hätte passende Stützstrümpfe.

Dauernd werde ich gewarnt, ich scheine ein Landei-Aura zu haben. Alte Frauen mahnen mich, auf meine Tasche zu achten. Und bloß nicht allein nach Harlem, das wäre mein Tod, mindestens. Ich soll in einem Bus hinter Panzerglas schwarze Menschen besichtigen. Ich soll nach sechs abends nicht aus dem Hotel. Ich soll im Hotel den Schlüssel mehrfach umdrehen. Abends liege ich im winzigen Hotelzimmer, das viel weniger feudal ist als der Eingang vermuten lässt, und ziehe mir Under the Bell Jar von Sylvia Plath rein. In regelmäßigen Abständen wackelt alles, das ist die U-Bahn, tief in der Blaulicht-Schlucht heulen die Rettungsautos vorbei. Aus dem Hotelradio plärrt die Dauerwerbung von Chase Manhattan Bank.

Als ich mit meinem Koffer voll historischer Schwergewichte am Flughafen lande, falle ich meinen Eltern um den Hals. Ich bin jetzt eine glühende Europäerin. Und Maoistin. Oder was? Das werde ich jetzt herausfinden. Ich bin 21. Ich bin frei.

Michèle Thoma
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