Immer diese Abhängigkeiten. Da möchte man im Ukraine-Konflikt gegenüber Moskau klare Kante zeigen und auf den europäischen Willen Kiews pochen, doch schnell wird Brüssel eingeholt von der eigenen wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland – die jedes Jahr, wenn es Winter wird, auch der EU-Bürger frierend spürt. Das weckt Begehrlichkeiten. Mit einer noch zur Gänze erforschten Technologie soll Schiefergas als unkonventionelles Erdgas nun Europa zu mehr energiepolitischer Unabhängigkeit bringen.
Die Fördermethode wird Fracking genannt. Sie unterscheidet sich von der Förderungsstrategie, mit der konventionelles Erdgas gewonnen wird, nur rudimentär. Der Unterschied besteht hauptsächlich darin, dass durch die geringe Durchlässigkeit des gasführenden Gesteins eine hydraulische Stimulation zwingend erforderlich ist und eine größere Anzahl an Bohrungen durchgeführt werden müssen. Hinzu kommt, dass zur Aufspaltung des Gesteins Chemikalien eingesetzt werden, deren abschließende Entsorgung ungelöst ist. Diese Chemikalien werden auch in der konventionellen Erdgasförderung eingesetzt, wenn auch in geringerem Umfang. Fracking ist ein kostenintensives Verfahren und galt lange Zeit als unrentabel. Doch bei den steigenden Energiepreisen wurde auch die Förderung des Erdgases, das in Gestein eingeschlossen ist, lukrativ.
Das Fracking-Verfahren ist die Stimulation der Schiefergas-Schichten. Dabei wird ein hydraulisches Mittel, das Frack-Fluid, verwendet, das aus der Basis-Flüssigkeit, einem Stützmittel und Additiven besteht. Die Stützmittel, in der Regel sind dies Kies oder Quarz, halten die Risse im Speichergestein offen und sorgen so für einen konstanten Erdgasfluss. Die Basisflüssigkeit transportiert die Stützmittel und sorgt darüber hinaus dafür, dass „Ablagerungen, mikrobiologischen Bewuchs, die Bildung von Schwefelwasserstoff und ein Quellen der Tonminerale im Frack- Horizont verhindert, Korrosion vermieden und die Fluidreibung bei hoher Pumpleistung zu minimiert werden“. Es gibt vier Gruppen, die nach ihrer Basis unterschieden werden: Wasser, Schaum, Öl oder Säure – in der Regel Salzsäure. Zudem werden Additive beigemischt. Das Fracking-Fluid ist der Stein des Anstoßes, da man nicht einschätzen kann, wie im Gestein verbleibendes Fluid sich verhält und wie rückfließendes Fluid entsorgt wird.
In Europa wird Fracking ab den 1950er-Jahren angewandt. In erster Linie bei Erdöl-Lagerstätten angewandt. Seit 1961 wird das Verfahren etwa in Deutschland auch zur Erdgasförderung eingesetzt. Die erste Bohrung war „Rehden 15“ in Niedersachsen. Seither wurden alleine in Niedersachsen 141 Erdgasbohrungen durchgeführt, bei denen das Fracking-Verfahren insgesamt 324-mal zum Einsatz kam. Nachdem in den 1970-er bis 1990-er-Jahren Fracking nur vereinzelt eingesetzt wurde, nahm die Anzahl der Fracking-Verfahren 2006 signifikant zu.
Angesteckt von der Goldgräberstimmung in den USA suchen auch Energiekonzerne in Europa nach Fracking-Pfründen: Eine Energiestudie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe schätzt die Schiefergas-Ressourcen in Europa auf rund 14 Billionen Kubikmeter. Ein Großteil des Vorkommens wird dabei in Frankreich, den Niederlanden und vor allem Polen vermutet. Kleinere Vorkommen in Österreich, Südschweden, Litauen, Rumänien, Großbritannien und Griechenland. Aber es scheint ein wenig wie Kaffeesatz-Lesen, denn die US Energy Information Administration sieht die Schiefergas-Vorkommen in anderen Tiefen. Nach diesen Angaben sitzen neben Polen und Frankreich vor allem Rumänien und Dänemark auf Vorkommen. Von den 21 600 Milliarden Kubikmetern Schiefergas in Polen, laut der US-Studie, seien aber nur knapp 4 200 Milliarden Kubikmeter technisch gewinnbar. Das Polnische Geologische Institut prognostiziert lediglich 34 bis 76 Milliarden Kubikmeter förderbares Erdgas.
So ungleich die Vermutungen über etwaige Vorkommen sind, so unterschiedlich sind auch die Herangehensweisen auf nationaler Ebene: Polen, Österreich, Deutschland, die Niederlande, Schweden und Großbritannien diskutieren über eine Förderung beziehungsweise haben erste Probebohrungen gestartet. Bulgarien, die Tschechische Republik und Frankreich haben ein Moratorium oder gar ein Verbot verhängt. In Rumänien wurde ein entsprechendes Moratorium Anfang 2013 wieder außer Kraft gesetzt.
Die Europäische Kommission ist sich noch uneins über die Bewertung der vermutlichen Bodenschätze, aber ganz frei in ihrer Entscheidung wird sie kaum sein. Nach dem CIA World Factbook ist die EU der mit Abstand größte Erdgas-Importeur der Welt. Die Schiefergas-Förderung könnte die Versorgungssicherheit in der EU erhöhen und gleichzeitig die Importabhängigkeit verringern. Wenn es nicht eine wichtige Einschränkung gäbe: Im Gegensatz zu den USA und Kanada, wo Fracking bereits praktiziert wird, ist Europa zu dicht besiedelt, um Konflikte zu vermeiden, Gefahrenpotenzial der Fördermethode einschätzen, abwägen und eingrenzen zu können.
Die EU-Kommission wagt sich dennoch ans heikle Thema. Eine im Januar 2012 von Energiekommissar Günther Oettinger in Auftrag gegebene Studie, ob die aktuelle Umwelt-Gesetzgebung den Risiken der Schiefergas-Förderung gerecht wird, kam zum Ergebnis, dass bestehende Gesetze nicht geändert werden müssten. Weitere Studien der Kommission befassten sich auf die Auswirkungen der Schiefergas-Förderung auf die internationalen Energiemärkte sowie auf weitere Umweltaspekte der Technologie. Die Förderung von Schiefergas habe in der Regel einen größeren ökologischen Fußabdruck als konventionelles Gas, heißt es in einer dieser Studien: „Die Risiken einer Kontaminierung von Oberflächen- und Grundwasser, Überbeanspruchung der Wasserressourcen, Schadstoff- und Lärmemissionen, Flächenverbrauch, Vernichtung von biologischer Vielfalt und Verkehrsfolgen gelten als hoch.“
Nach Auswertung der Studien sowie Gesprächen mit Förderunternehmen und Umweltverbänden, legte die Kommission Ende Januar Empfehlungen zum Fracking vor. Diese sollen den Mitgliedsstaaten, die eine Förderung in Erwägung ziehen, helfen, Umweltrisiken zu vermeiden. Gleichzeitig böten sie klare Rahmenbedingungen sowohl für die Förderunternehmen als auch für Bürger. Diese reichen von der Einbeziehung der Öffentlichkeit, über Qualitätskontrollen im Umweltschutz bis hin zur Behandlung von Emissionen. Die EU-Staaten waren aufgefordert, die Vorschläge bis Ende August umzusetzen und jährlich über die eingeführten Maßnahmen zu berichten.
Mit ihren Empfehlungen machte die Kommission deutlich, dass sie keinen Bedarf für verbindliche Regelungen bei der Schiefergasförderung sieht und dass die Entscheidung über eine mögliche Schiefergasförderung unter Einhaltung gewisser Mindeststandards bei den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten liegen soll. Befürworter der Fördermethode halten die Entscheidung der Kommission für richtig und verweisen auf bestehende Richtlinien, die bei genauer Einhaltung ausreichend seien. Kritiker jedoch sehen in den Empfehlungen unverbindliche Mindeststandards, die den möglichen Gefahren des Fracking nicht gerecht werden. So wurde beispielsweise die Forderung nach einer verbindlichen Verträglichkeitsprüfung für die Fördervorhaben nicht festgeschrieben.
Im Gegensatz zur Kommission hat sich das Europäische Parlament für eine verbindliche Rahmengesetzgebung ausgesprochen. Schon im September 2012 haben der Ausschuss für Umweltfragen sowie der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie Initiativberichte zum Thema Schiefergasförderung ausgearbeitet. Beide Berichte wurden nach am Ende November 2012 vom EU-Parlament angenommen. In der Entschließung spricht sich das Parlament dafür aus, „einen stabilen Rechtsrahmen bereitzustellen und die erforderlichen Verwaltungs- und Überwachungsressourcen, darunter auch jene Ressourcen, die laut Umwelt- und Klimagesetze der EU vorgeschrieben sind, für die nachhaltige Förderung aller Schiefergas-Aktivitäten zu gewährleisten“. Gleichzeitig betonte das Parlament jedoch, dass jeder Mitgliedstaat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip das Recht habe, selbst über die Nutzung von Schieferöl oder Schiefergas zu entscheiden. Über ein generelles Fracking-Verbot konnten sich die EU-Parlamentarier nicht verständigen.
So gibt es zwei Antipoden in Europa: Frankreich, das als erstes Land weltweit ein Fracking-Verbot verhängte, und Polen, das als erstes Land in der EU mit der Schiefergas-Förderung begann. Bis 2021 sollen in Polen 309 Schiefergas-Bohrungen durchgeführt werden. Enttäuschende Probebohrungen und schlechte infrastrukturelle Voraussetzungen führten jedoch mittlerweile dazu, dass sich viele Unternehmen aus Polen zurückgezogen haben, darunter auch Exxon-Mobile. Dennoch forciert Warschau das Fracking und erhofft sich dadurch eine stärkere energiepolitische Position gegenüber Moskau. Womit Europa auch ein klein wenig liebäugelt.