Vor genau zwei Jahren schrieb das Land an dieser Stelle zum syrischen Bürgerkrieg unter dem Titel „EU vor Politikdesaster?“ diesen Satz: Die Rebellen drohen inzwischen damit, mit Al Qaida zusammenzuarbeiten, wenn sie vom Westen nicht mehr Unterstützung bekommen. Im Artikel wurde beklagt, dass in der EU keine breite Diskussion über den Konflikt stattfindet: Die EU ist in Deckung gegangen. Es könnte sein, dass sie bald angesichts eines immer stärker eskalierenden Krieges im Nahen Osten vor einem ähnlichen Desaster steht, wie es ihr vor 20 Jahren in Jugoslawien passiert ist. Heute gibt es einen islamischen Terrorstaat (IS respektive Isis) in Syrien und Irak, neben dem Al Qaida anfängt sympathisch auszusehen und der stolz darauf ist, Hunderte an einem Tag abzuschlachten, weil sie ihrem Glauben nicht abschwören oder weil die Männer nicht für den Islamischen Staat kämpfen wollen. Vor allem syrische kurdische Truppen haben mit amerikanischer und britischer Luftunterstützung zehntausende Jesiden vor dem sicheren Tod gerettet. Während dieser Artikel geschrieben wird, kommt die Meldung, dass ein seit zwei Jahren entführter amerikanischer Journalist wegen der amerikanischen Luftschläge enthauptet worden sei.
Die Europäische Union findet in diesem Konflikt noch immer nicht statt. Nach einem Außenministertreffen am 15. August gab sie zu Protokoll: Erstens: Wir unterstützen die Einheit und Sicherheit des Irak. Zweitens: Die EU ist äußerst besorgt wegen der humanitären Situation und der massiven Vertreibungen im Norden Iraks und weist auf ihre großen Anstrengungen zur humanitären Hilfe hin. Drittens: Die EU bleibt ernsthaft besorgt über die sich verschlechternde Sicherheitslage im Irak und verurteilt die Gewalttaten und Vertreibungen von Isis und angeschlossener Verbände, die Verbrechen gegen die Menschheit darstellen könnten. Viertens: Die EU begrüßt die Unterstützung der USA für nationale und lokale Institutionen des Irak in ihrem Kampf gegen Isis. Fünftens: Der Außenministerrat begrüßt die Entscheidung einzelner Mitgliedstaaten regionale kurdische Institutionen mit militärischem Material zu unterstützen, wenn die irakische Regierung dazu ihre Erlaubnis erteilt.
Für die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton ist es schon ein Erfolg, wenn sich die Mitgliedstaaten darauf einigen können, dass sie nichts dagegen haben, wenn einzelne europäische Staaten militärisches Material an die irakischen Kurden liefern. Dass das Wort Waffen in der Ratsmitteilung nicht vorkommt, zeigt wie dünn der europäische Konsens ist. Frankreich und Großbritannien liefern schon Waffen, Deutschland hat sich am Mittwoch nach langer Diskussion dazu entschlossen.
Drei französische konservative Ex-Premierminister veröffentlichten am 14. August in Le Monde einen offenen Brief an Präsident François Hollande, der mit dem Satz beginnt: „Le Proche-Orient brûle et l’Europe regarde ailleurs.“ Später heißt es: „L’Europa n’a pas seulement le devoir d’intervenir, c’est son intérêt“. Es geht ihnen um den Schutz der Christen und um die Sicherheit Frankreichs und Europas. Sie beklagen, dass die Bemühungen Frankreichs zwar in die richtige Richtung gehen, dass es aber eines sofortigen massiven Engagements Europas bedürfe. Sie fordern einen außerordentlichen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs. Nur sie könnten der europäischen Diplomatie die Legitimität und die notwendige Durchschlagskraft verschaffen. Das heißt im Umkehrschluss, weder Frankreich noch Großbritannien noch Deutschland können allein als Akteur im Nahen und Mittleren Osten eine nennenswerte Rolle spielen. Die europäischen Staaten bleiben zum wiederholten Mal unter ihren Möglichkeiten. Ein Sondergipfel ist nicht vorgesehen. Europa taumelt weiter durch die Krisen unserer Zeit.
Viele machen es sich einfach, indem sie argumentieren, dass die Lage im Irak eine Folge des amerikanischen Krieges gegen Saddam Hussein sei und die USA deshalb verpflichtet seien, die Suppe, die sie uns eingebrockt haben, auch auszulöffeln. Sie setzen damit voraus, dass Selbstmordattentate und Massenmord eine berechtigte und natürliche Antwort auf die Invasion des Irak waren. Das war schon zu Zeiten von George W. Bush falsch, denn die Verantwortung für ihre Mittel im Kampf gegen die USA tragen Planer und Täter allein. Ebenso haben es die USA nicht zu verantworten, dass die irakischen Schiiten unter Al Maliki nicht bereit waren, den Sunniten und Kurden die Hand zu reichen, was den Aufstieg der Isis begünstigt hat.
Dass europäische Staaten den Islamischen Staat mit Waffenlieferungen an Kurden bekämpfen, ist keine leichte Entscheidung. Der Glaube, dass sich Europa aus dem syrischen Bürgerkrieg heraushalten könne, war jedoch schon vor zwei Jahren falsch. Jetzt steckt man mittendrin in einem noch größeren Krieg. Schaut man sich die Reportage des Magazins Vice aus der IS-Hauptstadt ar-Rakka an, sieht man erschütternde Bilder von kleinen Jungen, die fanatisiert werden. Sie und die Männer, die in die Armee des Islamischen Staates gepresst werden, werden die unschuldigen Opfer des Krieges gegen die Islamisten sein. Dennoch bleibt kaum eine andere Wahl. Alistair Burt, ein wegen ausbleibender Militärschläge gegen Assad zurückgetretener britischer Minister für den Mittleren Osten, hat es gegenüber dem Guardian so auf den Punkt gebracht: „Man muss den IS eliminieren. Diese Leute werden nicht an den Verhandlungstisch in Genf kommen. Diese Leute müssen getötet werden und sie müssen bald getötet werden.“ So weit muss man nicht gehen. Aber dass der Islamische Staat besiegt werden muss, steht außer Frage.