Perfekte Illusion

d'Lëtzebuerger Land vom 07.03.2025

Wieviel Komplexität verträgt ein Film über einen selbst zu Beginn seiner Karriere bereits hochkomplexen Künstler wie Bob Dylan? Jean-Luc Godard hätte, lebte er noch, sicherlich einen fundamental anderen Film über dessen erste Jahre, von seiner Ankunft in New York im Januar 1961 bis zu dessen kontroverser Entscheidung, seine akustische Musik auf dem Newport Folk Festival 1965 zu elektrifizieren, gemacht, als es James Mangold jetzt mit Like a complete unknown getan hat. Schließlich kann man Filme komponieren, die in ihrem Schnitt, ihrem Rhythmus, ihren Dialogen und Szenen, dem handelnden Wesen und dem erratischen Geist eines Kunstbegriffs und einem Porträt seines Protagonisten sehr viel gerechter werden, als ein zugegeben meisterhaft, aber eben auch generisch als Liebesgeschichte mit Musikbegleitung erzähltes Biopic. 

De facto gab es in der Vergangenheit bereits zwei Filme über Dylan, die einem solchen dekonstruierenden Ansatz verfolgen. Zum einen Don’t look back aus dem Jahr 1967, in welchem Regisseur D.A. Pennebaker Dylans akustische Tournee von 1965 durch England begleitet. Der als Meisterwerk geltende Film reiht in einer wilden, assoziativen Folge Backstage-, Reise-, Konzert- und Partyszenen aneinander, die Bilder sind eingefangen von einer unruhigen, ständig auf irgendwelche Details fokussierenden Steadycam, als ob alle Beteiligten permanent auf Speed währen. Das Bild eines souveränen, schnell denkenden, hyperaktiven, schlagfertigen, eleganten jungen Mannes wird gezeichnet, on the road, vor Ort, auf engstem Raum, die Kamera ruhelos immer dabei.

Fünf Jahre später, 1972, zeichnete Bob Dylan selbst für den Final Cut des Films Eat the document über seine England-Tournee 1966 verantwortlich. Abermals stammte das Filmmaterial von D.A. Pennebaker, die Bilder ähneln sich, doch schnitt Dylan seinen Film über sich selbst nochmals radikaler, verzichtete gar weitgehend auf Mitschnitte seiner Auftritte, fokussierte stattdessen auf vermeintlich Beiläufiges, eine vorbeiziehende Landschaft etwa, gefilmt aus dem holzgetäfelten Erste-Klasse-Abteil eines durch England rollenden Zuges, während im Hintergrund auf der Audiospur ständig Leute durcheinander reden. Für die ABC, den amerikanischen Fernsehsender, der den Film in Auftrag gegeben hatte, war das Resultat zu kryptisch für ein Mainstream-TV-Publikum. Eat the document wartet bis heute auf seine offizielle Veröffentlichung, kursiert aber als Bootleg.

Beide Filme eint ein filmischer Ansatz, der viel mehr mit der französischen Nouvelle Vague – und eben Godard – zu tun hat, als jeder Versuch, eine so polarisierende, explosionsartig beginnende Karriere linear und biografisch zu erzählen. Mit dem Bildmaterial, das den echten Bob Dylan zeigt, wird der Tenor einer Zeit eingefangen, überall wird geraucht, bei Autofahrten ist niemand angeschnallt, ja, Eat the document beginnt sogar mit einer Einstellung, in der sich Bob Dylan eine Line Speed auf dem Deckel eines Klaviers in die Nase zieht. Wohlgemerkt: Dylan hatte den Endschnitt. Beide Filme, dies am Rande, eint zudem, dass es sie gibt, weil es in Dylans engstem Umfeld, vor allem bei seinem damaligen Manager Albert Grossman, bereits ganz früh eine klare Erkenntnis gab: Will man die Deutungshoheit in der Hand behalten, muss man die Filmbilder kontrollieren.

Knapp fünfzig Jahre später ist es abermals das Team Dylan, das einen Film über dessen frühen Jahre lancierte, wenn auch dieses Mal keinen im weitesten Sinne Dokumentarfilm, sondern einen modernen Kostümfilm. Auf Betreiben von Jeff Rosen, Dylans Anwalt und Manager, wurden die Filmrechte für das Buch Dylan goes electric von Elijah Wald bereits kurz nach dessen Erscheinen vor zehn Jahren gesichert. In diesem Buch beschreibt Wild die kurze, aber umso polarisierende Zeitspanne in Dylans Leben, die zeitlich mit der Kubakrise zusammenfiel, in der es für wenige Tage im Oktober 1962 fast zu einem Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion gekommen wäre. In diesen Tagen, Wochen und Monaten schrieb Bob Dylan Dutzende messerscharf formulierte Songs, die bald zu Protesthymnen der linken Folk-Bewegung in den USA wurden. In diesem kurzen Zeitraum entwickelte sich aber auch die Künstlerpersönlichkeit Dylans in rasender Geschwindigkeit weiter. Bekanntlich wandelte er sich innerhalb weniger Monate vom sozialkritischen Beobachter zu einem Auteur im Wortsinn, der radikal persönliche Songs zu schreiben begann, in denen er seine wechselnden Beziehungskonstellationen mit surreal-lyrischer Intensität in Liedform brachte. Wer von einem solchen permanenten Willen zur Manifestation, Auslotung und Rekalibrierung getrieben ist, blickt nicht zurück, nur nach vorne. Das führt voraussagbar zum Konflikt: Wer seinen eigenen Ideensprüngen folgt und nicht der weitaus langsameren und behäbigeren Rezeption seiner Fans, die bestätigt bekommen wollen, was sie bereits kennen, der kommt schnell an den Punkt, dass er die Rolle des Entertainers, der liefert, was das Publikum wünscht, hinter sich lässt. Er wird zu einem, der nur noch seinen eigenen Regeln folgt. Und das bedeutete für den Zeitraum, in dem Like a complete unknown spielt, dass er seine Musik elektrisch zu verstärken, mit doppelter Lautstärke zu spielen begann, um sich selbst hören zu können.

So markiert Like a complete unknown, nüchtern betrachtet, vor allem auch den Versuch, Bob Dylan einem nachgewachsenen, jüngeren Publikum nahezubringen, gewissermaßen als Neuerschließung von Märkten. Und es hat ja auch funktioniert. Seit dem US-Filmstart kurz vor Weihnachten sind eine rekordverdächtige Zahl von Dylan-Alben und -Songs wieder in die Billboard-Top-100 eingestiegen, und der Film wird – sicherlich nicht zufällig dank Timothée Chalamet in der Hauptrolle – in Massen von der Generation Z besucht. 

James Mangold hat in diesem Sinne alles richtig gemacht. Like a complete unknown sieht großartig aus, er klingt sensationell, die Rollen sind durchweg exzellent besetzt. Die Dialoge sind zudem oft unfassbar witzig. Auch die Recherche ist profund, und wenn sie in Momenten offensichtlich nicht stimmt, dann nicht aus Unwissenheit, sondern aufgrund bewusst getroffener dramaturgischer (Fehl-)Entscheidungen. Like a complete unknown ist in diesem Sinne ein emotionaler Wohlfühl-, ein klassischer Popcorn-Film, der die frühen Jahre Dylans als Coming-of-age-Geschichte von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen, linear und straight-forward erzählt. Mehr noch: Aufgrund seines Themas ist der Film nicht zuletzt ein Musical. Fast in jeder Szene wird Musik live gespielt und gesungen. Es wird nur nicht dazu getanzt.

Womit wir bei des Pudels Kern angekommen wären. Begünstigt durch die jahrelange Verzögerungen im Produktionsablauf durch Corona-Lockdowns und anschließend den Drehbuchautorenstreik in den USA, ergriff Chalamet die sich ihm zeitlich bietende Gelegenheit, die Ikone Dylan nicht nur in Sprechstil und Körpersprache und vor allem auch in den Mikrophrasierungen in seinem Gesang zu adaptieren, sondern zudem auch noch das Spiel der Gitarre und der Mundharmonika zu erlernen – das ist echtes Method acting, und es hat dem Schauspieler nach Call me by your name (2018) mit 29 bereits seine zweite Oscar-Nominierung eingebracht. Tatsächlich liefert Chalamet in der musikalisch-schauspielerischen Performance etwas wahrhaft Einzigartiges. Die Kinobesucher sehen und hören, wie dieser Chalamet-Dylan zu Beginn des Films, als er kurz nach seiner Ankunft in New York seinem Idol Woody Guthrie, der schwer gezeichnet von einer Huntington-Erkrankung ans Krankenhausbett gefesselt ist, mit nahezu verkrampftem Körper ein Lied vorsingt – seinen eigenen „Song to Woody“, in welchem der echte Dylan seine eigenen Worte in alter Folk-Tradition über die bereits existierende Melodie eines Liedes von Guthrie getextet hatte. 

Es ist das erste Mal, dass man Timothée Chalamet in diesem Film singen hört, aber weil wir es sehen und spüren, wie er sich selbst im Gesang phrasierend zur Gitarre begleitet, vollzieht sich eine nur als magisch zu bezeichnende Verwandlung: Chalamet wird über die Musik und über den Gesang zu einer glaubwürdigen Verkörperung Dylans. Chalamet singt in dieser Szene einen Ton besonders langgezogen und es ist, als würde er sich in diesem Moment bewusst, dass er seinen Weg gefunden hat. Gleich zu Beginn des Films wird mit diesem angeblich ungescripteten Detail die Sorge resolut vom Tisch gewischt, ob es nicht vielleicht authentischer gewesen wäre, Chalamet zu Dylan-Playbacks spielen zu lassen. Nein, wäre es nicht. Es ist das ganz große Verdienst dieses Films, von Regisseur Mangold, von Chalamet und von allen anderen singenden Schauspielern und Schauspielerinnen, dass diese Illusion tatsächlich von diesem ersten Moment bis zum Schluss des Films trägt. Denn die Glaubwürdigkeit des Gespielten liegt eben darin, dass hier ein Timothée Chalamet im Film um sein Überleben auf der Leinwand singt – so, wie Dylan selbst um sein Überleben im Greenwich Village gesungen hat.

Tatsächlich werden fast alle Konfliktlinien in Like a complete unknown über die Musik ausgerollt. Edward Norton spielt und singt einen grandios mit seiner väterlich-ideologischen Art nervenden und doch für die frühen Karriereschritte des jungen Dylan so wichtigen Pete Seeger. Johnny Cash, gespielt von Boyd Holbrook, verkörpert eine positive Vaterfigur, und Monica Barbaro spielt geradezu genial Joan Baez, die mit ihrem glockenhellen Sopran stimmlich die Antagonistin zu Chalamets Dylan ist, weil sie zu mustergültig schön, zu kontrolliert, zu anbiedernd singt. Die musikalischen Konfliktlinien funktionieren deshalb so überzeugend, weil gespielt und gesungen und nicht gemimt wird. Als bei der Deutschlandpremiere von Like a complete unknown im Rahmen der Berlinale während des Abspanns minutenlanger Applaus aufbrandet, der sich in die Musik von Dylans „Like a rolling stone“ mischt, ist die Illusion perfekt: Man meint, den echten Dylan zu hören, so sehr hat man sich an die Stimme des Schauspielers im Verlauf der fast zweieinhalb Stunden Laufzeit des Films gewöhnt. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, aber mit Bravour geliefert.

Dass James Mangold seinen Film nicht in der Tradition von Godard oder Pennebaker als system- oder genresprengenden Film erzählt hat, der seinem Publikum viel, vielleicht zu viel abverlangt, sondern als braves, unterkomplexes Biopic, ist am Ende vermutlich eine Fußnote, zu groß ist der Erfolg des Films bereits jetzt, zu gelungen die Teamleistung. Aber gesagt werden musste es im Angesicht der letztlich nachvollziehbaren, vielfach euphorischen Rezeption zumindest einmal.

Max Dax
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