Von Wunderheilern, toxischen Vorbildern und anderen Scharlatanen

d'Lëtzebuerger Land vom 28.02.2025

Es dürfte für viele ein Dilemma gewesen sein: Den politischsten Film des Berlinale-Wettbewerbs zu würdigen hätte bedeutet, nach Nicolas Philiberts Sur l’adamant und Mati Diops Dahomey zum dritten Man in Folge den einzigen Dokumentarfilm des Wettbewerbs mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen – und somit zu verdeutlichen, dass Fiktion im Wettbewerb nicht mehr viel zu sagen hat.

Kateryna Gornostais von a_Bahn koproduzierter Dokumentarfilm Timestamp über ukrainische Schulen, in denen trotz des Krieges weiterhin unterrichtet wird, mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen, wie so manche Kritiker/innen es vorausgesagt hatten, hätte gleichzeitig von politischem Mut und ästhetischer Feigheit gezeugt, fehlt es doch, bei einem einzigen Dokumentarfilm, an Vergleichskriterien. Auch ohne Bären bestechen Gornostais während 14 Monaten in der Ukraine eingefangene Bilder von zerbombten Schulen, von Schüler/innen, die sich ihre militärische Zukunft vorstellen und Unterrichtsstunden, die immer wieder wegen Bombenalarms unterbrochen wird. Gornostai filmt stoisch, aber politisch nicht neutral eine Lehrerin, die einer Grundschulklasse mithilfe von Fotos erklärt, wie man zwischen harmlosen und mit Sprengstoff gespickten Plüschtieren diskriminiert. Danger, Danger, schreien die Kleinen – und die Frage, die Timestamp eindringlich stellt, ist überdeutlich: Was bringt eine humanitäre Erziehung in einem Land, dessen Jugend in den Krieg zieht – und inwiefern soll der Unterricht auf ein Leben im Krieg vorbereiten?

Fast wirkt es also so, als sei sich die Jury um Todd Haynes ihrer Aufgabe, die Fiktion auf der Berlinale zu rehabilitieren, bewusst gewesen: Anders erklärt sich der Goldene Bär für Dag Johan Haugeruds guten, aber nicht außergewöhnlichen Dreams1 wohl kaum. Der Film ist eine deutliche Hommage an die Macht der (Auto)Fiktion. Nach der Lektüre von Janine Boissards L’esprit de fille, ein Roman über ein junges Mädchen, das sich in einen älteren Mann verliebt, verguckt sich die 17-jährige Johanne (Ella Øverbye) in einem Prozess umgekehrter Mimesis in ihre Französischlehrerin und hält ihre Gefühle in einer Autofiktion fest, die sie ihrer Großmutter Karin (Anne Marit Jacobson) zeigt. Überwältigt (und auch ein wenig neidisch) meint Karin, Johanne dürfe ihrer Mutter Kristin (Ane Dahl Torp) diesen Text nicht vorenthalten. Diese wiederum will nach dem Lesen des Textes die Lehrerin erst wegen Missbrauchs und Manipulation verklagen, feiert die Prosa ihrer Tochter am darauffolgenden Tag dann als „queer-feministisches Manifest“. Haugeruds (gegen Ende etwas zu voraussehbarer) Film ist jedoch weniger ein Manifest als eine feinfühlige Darstellung der ersten Liebe und ein Porträt generationsübergreifendem weiblichen Zusammenhalt – und schließt nach Sex und Love eine über den Zeitraum von nur zwölf Monaten produzierte Trilogie würdig ab.

Überhaupt waren die Themen Mutterschaft, weibliche Solidarität und die Kehrseite davon – toxische Beziehungen junger Frauen zu weiblichen Identifikationsfiguren – rote Fäden, die sich durch einen qualitativ überraschend ausgeglichenen Wettbewerb zogen. In Mary Bronsteins If I Had Legs I’d Kick You spielt Rose Byrne (Silberner Bär für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle) die hoffnungslos überforderte Mutter und Therapeutin Linda, die sich um ihre kranke Tochter kümmern muss. Der Ehemann ist gefühlt 366 Tage im Jahr auf Geschäftsreise, verteilt dafür aber tagtäglich via Telefon doofe Ratschläge (Linda legt ihm quasi in jeder Szene auf). Ihre Patienten sind bestenfalls in sie verknallt, schlimmstenfalls Kindesmörder in spe. Als ein Leck ein klaffendes Loch in die Decke ihrer Wohnung frisst und diese überschwemmt, bricht ihre Welt definitiv zusammen. Bronsteins Film ist radikal – Linda ist so unsympathisch, dass man nicht anders kann, als sie zu mögen und bis zur Schlusssequenz wird ihre Tochter nie gezeigt, obwohl man sie in jeder Szene jammern, klagen oder lachen hört – womit Bronstein verdeutlicht, wie sehr die Tochter für Byrnes alleinerziehende Mutter zu einer abstrakten To-do-Liste versachlicht wird.

Byrnes beeindruckende Performance ist definitiv Bärenmaterial – würde die Berlinale jedoch noch Preise für eine männliche und eine weibliche Hauptrolle vergeben, hätte man unbedingt Ethan Hawke für seine Verkörperung des alkoholsüchtigen Musicaldichters Lorenz Hart in Richard Linklaters brillant geschriebenem, wahnsinnig lustigen und zu Tränen rührendem Huis Clos Blue Moon auszeichnen müssen. Wie Hawke hier den vom eigenen Ehrgeiz zerfressenen und dem doppelten Verrat seines früheren Partners (Andrew Scott) niedergeschmetterten Dichter spielt – das hätte die Jury eigentlich würdigen müssen. Hat sie irgendwie auch: Dass Andrew Scott hier mit dem Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle ausgezeichnet wurde, ist eben nur so lange absurd, bis man diesen Trostpreis als heimliche und bisweilen auch ironische Hommage an Hawke interpretiert: Schließlich steht Hawkes Figur im Schatten seines künstlerischen und amourösen Widersachers. Selten war eine Auszeichnung gleichzeitig so metaleptisch und so zynisch.

Weil Anikas Mutter in der Psychiatrie ist, kümmert sich Großmutter Myriam (Mara Bestelli) um sie – und nutzt Anikas vermeintliche Gabe, mit den Haustieren ihrer Kunden in Kontakt treten zu können, aus. In Ivàn Funds The Message (Silberner Bär Preis der Jury) geht es um Aberglauben – und um die Schere zwischen reich und arm. Der Film ist weitaus kontemplativer, als es die schräge Prämisse vermuten lässt: Hier passiert wenig, die bestechende Schwarzweißästhetik hält Alltagsschnipsel fest, ein bisschen wie auch Hong Sangsoo es in seinem alljährlichen Wettbewerbbeitrag What Does That Nature Say to You tut.

Im Gegensatz zur Wunderheilerin Anika hat Marielle (Laeni Geiseler) tatsächlich eine Gabe: Seitdem ihr beste Freundin sie geohrfeigt hat, hört und sieht sie alles, was ihre Eltern tun. Dass Mutter Julia (Julia Jentsch) während der Rauchpause explizite sexuelle Fantasien mit dem Arbeitskollegen Max austüftelt, kriegt sie ebenso mit wie Vater Tobias’ (Felix Kramer) Demütigung auf der Arbeit. Frédéric Hambaleks Wettbewerbbeitrag Was Marielle weiß ist ein amüsanter Thesenfilm, der die Frage stellt, wie viel Lüge es braucht, um sich, seinen Partner und seine Kinder im Alltag auszuhalten. Schnell erfährt Marielle, dass das Erwachsenenleben aus permanenter Selbsttäuschung besteht, der ein sehr dehnbares Wahrheitsverständnis zugrunde liegt. Durch Marielles Gabe werden beide Eltern – hier wird der Film etwas zu pädagogisch – wieder ehrlicher mit sich selbst und lernen, im Alltag mutiger zu sein.

Johanna Moder geht in Mutterglück noch einen Schritt weiter: Nachdem sich Julia (Marie Leuenberger) ihren Kinderwunsch endlich erfüllen kann, stellt sie fest, dass etwas mit ihrem Baby nicht stimmt. Das ist nicht meins, meint die Chefdirigentin, ihr Ehemann und der Arzt diagnostizieren eine postnatale Depression, während Julia zu ermitteln beginnt. Wie in Henry James’ Turn of the Screw oder Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 lebt Johanna Moders übernatürlicher Film von dem, was Tzvetan Todorovs Unschlüssigkeit des Fantastischen nannte: Lange bleibt es für die Zuschauer/innen unbestimmbar ob das, was mit dem Baby nicht stimmt, sich nur in Julias Kopf abspielt – oder ob sie sich gut daran tat, dem Kind keinen Vornamen zu geben.

Drei von der Jury preisgekrönte Filme bringen etwas Kapitalismuskritik in diese politisch eher zahme Berlinale: Neben der bereits vorige Woche besprochenen brasilianischen Dystopie Blue Trail (Grand Prix du Jury) zeichnete die Jury Huo Ming mit dem Silbernen Bären für die beste Regiearbeit aus. In Living the Land porträtiert der Regisseur ein chinesisches Dorf, das mit dem wirtschaftlichen Wandel der 90er-Jahre konfrontiert wird – Eltern lassen ihren Sohn zurück und ziehen in die Stadt, eine Frau fürchtet eine staatliche Zwangssterilisierung, eine andere eine Zwangshochzeit. Umrahmt von drei Todesfällen, in der Mitte von einer morbiden Hochzeitszeremonie geprägt, stellt Living the Land mit wenig Handlung und viel Empathie ein Dorf dar, dass die Spätfolgen des globalen Turbokapitalismus zu spüren bekommt.

Am neoliberalen Virus ist auch das transsilvanische Cluj erkrankt, in dem eine Gerichtsvollzieherin die schwere Aufgabe hat, einen Obdachlosen aus dem Keller, in dem dieser Unterschlupf gefunden hat, zu verweisen – das Haus soll abgerissen werden und einem Boutique Hotel weichen. Als sie ihn 20 Minuten nach dem Rauswurf an einer Heizung erhängt auffindet, plagt sie das schlechte Gewissen. Seinen mit dem besten Drehbuch ausgezeichneten Kontinental 25 hat Radu Jude quasi nebenbei gedreht, während er in Transsylvanien seine Dracula-Verfilmung fertigstellte. Tatsächlich ist Judes mit einem iPhone gefilmte dritte Zusammenarbeit mit Paul Thiltges Distributions weniger verspielt als Good Luck Banging or Loony Porn oder Do Not Expect Too Much from the End of the World. Dennoch fesselt der Film mit schwarzem Humor, endlosen Dialogen in bester Hong Sangsoo-Manier und betörenden finalen Bildern einer Stadt, in der neue Gebäude wie Pilze aus dem Boden sprießen, während ein Obdachloser um ein paar Lei bettelt und von Roboterwachhunden angeschnauzt wird. Insbesondere während der Angangs- und Schlusssequenz erinnert Cluj frappierend an das heutige Luxembourg-City.

Eine Tradition hat die Berlinale auch dieses Jahr erhalten: Abgesehen vom Silbernen Bären für eine besondere künstlerische Leistung an Lucile Hadžihalilovićs recht redundanten La Tour de Glace gingen die französischsprachigen Filme leer aus – darunter auch die Luxemburger Koproduktionen Reflet dans un diamant mort (Films Fauves) und La cache (Red Lion). In letzterem verdichtet Lionel Baier Christophe Boltanskis jahrhundertumspannenden Roman auf die Mai-68-Ereignisse und zeichnet mit viel Leichtfüßigkeit, etwas dramaturgischer Orientierungslosigkeit und einem nicht immer zündenden Humor ein Familienporträt, das eigentlich als utopische Metonymie für die französische Gesellschaft steht – wäre da nicht der bereits 1968 wieder salonfähige Antisemitismus, gegen den sich die Boltanskis durch ihren unkonventionellen Lebensstil widersetzen.

1 Nicht zu verwechseln mit Michel Francos Wettbewerbbeitrag Dreams. 

Jeff Schinker
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