Grafische, körperliche Gewaltdarstellungen begleiten den Film seit seinen Anfängen. Kriminalistische Handlungen, Kampf, Waffen, Blut und Tod sind feste Bestandteile mehrerer Filmgenres. Besonders das Actionkino hat Gewalt zu einem integralen narrativen Baustein werden lassen, deren spektakuläre Schauwerte nahezu ostentativ ins Bild gesetzt werden sollen. Die damit einhergehende „Unwirklichkeit“ der Gewalt ist symptomatisch für die soziale Abkopplung vieler zeitgenössischer Filme in denen Gewalt ein zu inszenierendes Bild, ein zu inszenierender Spezialeffekt ist, aber keinen sozialen Effekt hat, der dabei doch mitgedacht werden könnte. Wenn Figuren in modernen Krimi- und Actionfilmen einen spektakulär blutigen Tod sterben, sind sie oftmals nur Filmfiguren, klarerweise ohne Entsprechung im wirklichen Leben. In der Kultur der Ultragewalt, die das Medium heute durchdringt, agieren die Filmemacher in einer Art postmodernen Blase, in der Gewalt als Bild und nicht als sozialer Prozess begriffen wird. Darüber hinaus verstärkt die schiere Allgegenwärtigkeit der Mediengewalt dieses Gefühl der Unwirklichkeit weiter – sie ist Objekt der Konsumgesellschaft geworden, ein vertrauter Teil der medialen Landschaft. Freilich, die Liste der Filmkünstler, die vor diesem Hintergrund einen distanziert-reflexiven Zugang zur filmischen Gewaltdarstellung fanden, ist lang: Michael Cimino, Sam Peckinpah, Martin Scorsese kommen in den Sinn.
Eine der eindringlichsten Stimmen des gegenwärtigen Kinos ist in dieser Hinsicht der australische Regisseur Justin Kurzel, der auch als Drehbuchautor und Produzent an seinen Arbeiten wirkt. Internationale Aufmerksamkeit erlangte er gleich mit seinem Debütfilm Snowtown (2011), der auf den wahren Ereignissen der Snowtown-Morde in den Neunzigerjahren basiert ist – eine der erschütterndsten Mordserien in der australischen Kriminalgeschichte. Im Zentrum steht John Bunting (Daniel Hensall), Kopf einer Gruppe, die mehrere Menschen entführten, folterten und ermordeten, weil sie sie als „Pädophile“ oder „Kriminelle“ betrachteten. Die Opfer wurden in Fässern verpackt und in einer verlassenen Bankfiliale abgeladen. Kurzel kreist in diesem harschen und desolaten Milieu, das seinen Figuren kaum Perspektiven in Aussicht stellt – nicht die kriminalistische Handlung und die Morde per se interessieren Kurzel, sondern die Fokussierung auf die Hauptfigur: Sein Film ist der Entwurf eines Psychogramms, das in Ansätzen Erklärungsangebote stiften soll, die die grausamen Mordtaten perspektivieren. Der authentische Schauplatz selbst war ihm dabei eine wichtige Bezugs- und Inspirationsquelle – ähnlich wie bei Martin Scorsese – die sein nahezu dokumentarisches Interesse an dem gewalttätigen Stoff erklärt: „It’s a hard place to live […] I think violence has always been a backdrop, especially within men in Australia, that I’ve been interested in. When I was younger, I was surrounded by communities that did have violence in them, like Snowtown, which is where I grew up. I’m curious about its roots and why, in this particular place, it is what it is.“
Sein zweiter Film, Macbeth (2015), ist eine Adaption von Shakespeares gleichnamigem Stück – gegenüber früheren Verfilmungen dieses weltliterarischen Klassikers durch Orson Welles oder Roman Polanski wählt Kurzel einen zugleich poetischen und archaisch-brutalistischen Zugang. Dem Film wurde in der Folge von der Kritik ein Übermaß an Stilwillen attestiert, der einer werkgetreuen Übernahme der Shakespeare’schen Dichtkunst zuwiderlaufen würde. Die Farbgebung, die Zeitlupe oder noch die ungewöhnlichen Kameraperspektiven überhöhen die Gewaltszenen, ästhetisieren sie zu Gemälden von Schlachten. Kurzel interpretiert Shakespeare als kunstvoll entfesselte Bühne – Kino als Erweiterung des Theaters, so eindringlich, dass die von ihm gewählten Ästhetisierungsstrategien in der Darstellung dieser rohen und brachialen Kampfhandlungen in das Robbie Williams-Biopic Better Man eingeflossen sind.
Kurzels Assassin‘s Creed (2016) ist die Verfilmung des bekannten Videospiels und erhielt gemischte Reaktionen. Der Film konnte auch nicht den gewünschten Kassenerfolg entwickeln – möglicherweise, weil die dem Videospiel zugrunde liegende spektakulären Subjektivierungs- und Affektstrategien der Gewaltdarstellung dem intellektuellen Impuls Kurzels zuwiderlaufen. Nach diesem großbudgetierten Projekt widmete er sich einem genuin australischen, ja mythischen Stoff. True History of the Kelly Gang (2019) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Peter Carey und erzählt die überaus fiktionalisierte Geschichte von Ned Kelly – der ironische Titel ist da vielsagend –, eine der bekanntesten und umstrittensten Figuren der australischen Geschichte. Ned Kelly war ein berüchtigter Gesetzesbrecher und Anführer einer Gang im späten 19. Jahrhundert, der für seine Auseinandersetzungen mit der Polizei und seine Rolle im Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft bekannt ist. Die Geschichte folgt Kelly (George MacKay) von seiner Kindheit bis zu seinem Aufstieg als Outlaw. Der Film beleuchtet die sozialen und politischen Umstände, die zu Kellys kriminellem Leben führten, zeigt seine Beziehungen zu seiner Familie und seinen Gangmitgliedern. An einer Fortschreibung des Kelly-Mythos, wie es Filme wie The Bandit (1969) oder Ned Kelly (2003) betrieben, ist Kurzel nicht interessiert. „Echte Männer“ so meint Kellys Mutter, müssen morden und stehlen können, um die Familie zu ernähren. Deshalb auch übergibt sie ihren Sohn in die Hände des Gesetzlosen Harry Power (Russel Crowe), der ihn unterweisen soll. Kurzels Film dekonstruiert das mythische Bild des Gesetzlosen als eine verstörend-zwanghafte Laufbahn, er schildert ein Hineinschlittern in eine Welt aus Machtgefügen und Ausbeutungsverhältnissen, in denen die dargestellte Gewalt immer mehr zu einem Ausdruck einer gebrochenen Maskulinität wird, so sehr, dass das hier entworfene Männlichkeitsbild nahezu synonymisch mit Gewalt gelesen wird.
In seinem neuen Film, The Order, der bei den Filmfestspielen von Venedig seine Premiere feierte und nun direkt auf der Streamingplattform Amazon Prime abrufbar ist, behandelt Kurzel erstmals die Ausmaße und Folgen von rassistisch motivierter Gewalt: Im Jahr 1983 wird der Nordwesten der USA von einer Reihe brutaler Raubüberfälle und Anschläge erschüttert. Der FBI-Agent Terry Husk (Jude Law), unterstützt von einem lokalen Polizisten (Tye Sheridan), entdeckt im Bundesstaat Washington eine terroristische White-Power-Bewegung, die für die Gewalttaten verantwortlich ist. Unter der Führung eines charismatischen Rechtsextremisten Robert Mathews (Nicolas Hoult) planen sie einen politischen Umsturz. Für den auf organisierte Kriminalität spezialisierten Bundesagenten entwickelt sich der Kampf gegen die Gruppe zu einem dramatischen Kleinkrieg. Der Thriller, der auf wahren Begebenheiten basiert, beleuchtet auf geradlinige Weise eine Episode aus der Geschichte des rechten Terrors in den USA, dessen zugrunde liegende Ideologie bis heute fortbesteht: Denn die terroristische Gruppierung basiert ihr Denken auf die The Turner Diaries von William L. Pierce. Ein Werk, das auch mit dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 in Verbindung gebracht wurde. Darin liegt die Aktualität des Stoffes: die ideologische Aufrüstung, die Schaffung von separatistischen Bewegungen unter einer emblematischen Führerfigur, die dem Film seine wirkungsmächtige Resonanz verleiht. Bildschön und verstörend sind da die Verweise auf Michael Ciminos The Deer Hunter (1978), der vielbeachtete Antikriegsfilm des New Hollywood, der von den traumatischen Erlebnissen im Vietnamkrieg erzählte. Der Verweis ist sprechend – da wie hier geht es um die Begegnung mit den tiefsten Grenzerfahrungen, mit der Entäußerung als Mensch, eine Entäußerung durch Gewalt. Letztlich handeln alle Filme von Kurzel von diesem Grenzübertritt.