„Bald müssen wir dem Chef auch noch Geld mitbringen, um arbeiten zu dürfen“, schäumte vergangenen Freitag im Bartringer Centre Attert ein Bauarbeiter vor Wut. Dafür bekam er Beifall von den Kollegen. Die Stimmung war aufgeheizt, als die Gewerkschaftssekretäre von OGBL und LCGB ihre Mitglieder über den Stand der Verhandlungen für einen neuen Kollektivvertrag im Bausektor informierten. Nicht nur im Saal, auch in der Vorhalle und draußen vor der Tür. Mehr als 2 000 Arbeiter waren Gewerkschaftsangaben zufolge gekommen, um ihrem Unmut über die aus ihrer Sicht exzessiven Forderungen der Arbeitgeber Luft zu machen.
Seit 2009 laufen die Verhandlungen, elf Verhandlungstreffen hat es bereits gegeben, sagt Jean-Paul Fischer vom LCGB. Dennoch werden die Sozialpartner wahrscheinlich bald zum Schlichtungsamt gehen. Der Grund dafür: die Forderung der Arbeitgeber, die maximale Wochenarbeitszeit von April bis Oktober auf 52 Stunden die Woche anzuheben. Eine Forderung, die für OGBL und LCGB vom Verhandlungstisch muss, bevor man dort wieder Platz nimmt, welche die Arbeitgeber aber bislang nicht aufgeben wollen.
Eine 54-Stundenwoche haben die Arbeitgeber eingangs gefordert, das bestätigt auch Patrick Koehnen stellvertretender Direktor der Fédération des Artisans (FDA). Für die Gewerkschaften eine untragbare Forderung. Bei solchen Arbeitszeiten sei kein Familienleben mehr möglich, regten sich Jean-Luc de Matteis vom OGBL und Fischer am Freitag auf, ein Arbeiter sehe seine Familie dann kaum noch, weil er „entweder auf der Baustelle sei, oder auf dem Weg dahin oder zurück“. „Nach acht Stunden auf der Baustelle sind wir kaputt“, so de Matteis am Freitag unter dem zustimmenden Beifall der versammelten Arbeiter. Und mit der steigenden Arbeitszeit steige das Unfallrisiko. Zudem habe es seit vier Jahren keine Lohnerhöhung mehr gegeben, klagen die Gewerkschaften. Die Arbeitgeber halten dagegen, seit 2000 seien die Lohnkosten durch Lohnanpassungen im Kollektivvertrag, vor allem aber durch elf Indextranchen um 32,68 Prozent gestiegen. Dennoch ist das Handwerk gut durch die Wirtschaftskrise gekommen. Die Handwerkerkammer selbst bezeichnete die eigene Branche vor wenigen Wochen als Stabilitätsfaktor der heimischen Wirtschaft.
„Wir brauchen diese Flexibilität, die Möglichkeit bis zu 52 Stunden die Woche zu arbeiten“, verteidigt Paul Faber vom Groupement des entrepreneurs den Vorstoß der Arbeitgeber. Während der Schlechtwetterperioden im Winter verlören die Betriebe viel Zeit. Zeit, die ihnen fehle, um die vertraglich festgelegten Liefertermine einhalten zu können, ohne Verzugsbußgelder zahlen zu müssen. „Wenn abends um fünf die Betonierungsarbeiten auf der Baustelle nicht abgeschlossen sind, kann man nicht einfach abbrechen“, nennt er ein Beispiel, „dann muss weitergearbeitet werden, bis man fertig ist.“ „Schon jetzt ist es oft so“, gibt ihm Patrick Koehnen Recht, „dass man über die 48 Stunden hinauskommt“, wenn man mitten in den Arbeiten sei. Da komme es schon mal zu 52-Stunden-Wochen für die Arbeiter. Was nach geltendem Arbeitsrecht eindeutig illegal ist – das geben Faber und Koehnen freimütig zu. „Deswegen wollen wir das ja regulieren“, sagt Koehnen.
Die Arbeitgeber wollen mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Am Freitag erklärte der Präsident der Handwerkerkammer, Roland Kuhn, in Funk und Fernsehen noch einmal die Vorteile des ATT-Modells (Aménagement du temps de travail), das nach Ansicht der Arbeitgeber nur Vorzüge für alle Beteiligten hat. Durch die Anhebung der maximalen Wochenarbeitszeit über die Sommermonate könnten die Betriebe die im Winter verlorenen Stunden reinholen – Vorteil für die Firma –, der Arbeitnehmer werde während Schlechtwetterperioden statt einer Entschädigung von 80 Prozent den vollen Lohn erhalten – Vorteil für den Arbeitnehmer – und der Staat müsse die Entschädigungen, den Chômage intempéries nicht mehr zahlen und spare damit bis zu 18 Millionen jährlich – Vorteil für die Allgemeinheit.
Die Zauberformel dahinter funktioniert wie folgt: Von April bis Oktober kann bis zu 52 Stunden die Woche gearbeitet werden, der Arbeitnehmer leistet Überstunden, die – wie es das Gesetz vorsieht – mit 140 Prozent des normalen Stundentarifs entlohnt werden. Der Überstundenaufschlag würde sofort ausgezahlt, wenn die Überstunde geleistet wird. Die Stunde selbst, der dazugehörige normale Stundenlohn würde auf einem Zeitkonto gutgeschrieben und während der Schlechtwetterperiode ausgezahlt, wenn nicht gearbeitet werden kann. Trotz der vielversprechenden Worte der Arbeitgebervertreter wäre das ein Verlustgeschäft für die Angestellten. „Wir sollen unsere Schlechtwetterentschädigung mit unseren Überstunden selbst finanzieren“, erklärte de Matteis am Freitag den Bauarbeitern. Das finden die Arbeitgeber normal. „Anormal“ finden sie, dass die Arbeiter vom Staat 80 Prozent ihres Lohnes erhalten, um zu Hause zu bleiben, so Koehnen, „das gibt es sonst nirgends“. Das stimmt so nicht ganz. Für die Mitarbeiter von Firmen, die kurzarbeiten, gibt es ebenfalls die staatlich finanzierte Lohnfortzahlung, eine Maßnahme, die während der Krisenzeiten seit Ende 2008 von allen Seiten als sehr sinnvoll betrachtet wird.
Problemtisch ist vor allem, dass sich die Forderungen der Arbeitgeber in Bezug auf die 52-Stundenwoche kaum mit Fakten und Argumenten untermauern lassen. Da sind zum einen die Kosten, die der Staat durch ihr Modell einsparen soll. Auf zwischen zwölf und 15 Millionen Euro schätzen sie die Rechnung für die Schlechtwetterentschädigung für die Saison 2011-2012, im Vorjahr waren es fast 18 Millionen, wie die Arbeitgeber gerne hervorheben. Geld, das der Staat angesichts des aktuellen Haushaltsdefizits getrost sparen könnte und sollte, wie sie meinen. Allerdings sind die Ausgaben für den Chômage intempéries so variabel wie das Wetter selbst. Vor vier Jahren, 2008, waren es 4,2 Millionen Euro, 2007 2,9 Millionen Euro. Immer noch viel Geld, aber längst nicht so viel, wie die Arbeitgeber glauben machen wollen.
Dabei ist nicht ganz auszuschließen, dass der sprunghafte Anstieg der Entschädigungssummen von 2008 auf 2009 (12,4 Millionen) zumindest teilweise darauf zurückzuführen ist, dass manche Firmen die staatlichen Gelder zur eigenen Sanierung beantragen. „Uns ist schon berichtet worden, dass unsere Mitglieder die ganze Woche gearbeitet haben und der Chef sie am Ende der Woche dennoch den Antrag auf Schlechtwetterentschädigung hat unterschreiben lassen“, sagt Gewerkschaftssekretär de Matteis, „deswegen fordern wir mehr Kontrollen von der Gewerbeaufsicht.“ So kann durchaus angezweifelt werden, ob die Arbeitgeber mit ihrem Sparansinnen wirklich die Allgemeinheit oder doch eher das eigene Portemonnaie vor Augen haben. Seit 2007 nämlich werden die Kosten für die ersten beiden Tage Intempéries nicht mehr zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geteilt, sondern fallen ganz zu Lasten der Arbeitgeber, was für sie schnell teuer werden kann, wie Koehnen erklärt. Vor 2007 störte man sich nicht am System, obwohl mitunter hohe Summen aus dem Beschäftigungsfonds flossen.
Zum anderen müssen sich FDA und Groupement des entreprenuers in punkto Arbeitszeit die Frage gefallen lassen, für wen sie eigentlich sprechen, wenn sie sagen: „Oft reichen 48 Stunden nicht aus.“ Dass dem so ist, lässt sich nicht belegen. Denn vergangenen Samstag hatten gerade mal 25 Firmen aus der Baubranche Samstagsarbeit im Überstundenmodus bei der Gewerbeinspektion ITM angemeldet. Berücksichtige man, dass das Wetter nicht besonders gut war und die Dunkelziffer zweieinhalb bis dreimal so hoch sei, würden den Erfahrungswerten gemäß zwischen 50 und 70 Firmen samstags Überstunden machen lassen, sagt Claude Lorang, stellvertretender Direktor der ITM. Verschwindend wenig im Vergleich zur Anzahl der Betriebe und Beschäftigten – 14 000 sind es in der Branche.
Eine andere Schlussfolgerung lassen auch die Daten von Statec und der Sozialversicherungsaufsicht IGSS nicht wirklich zu, nach denen in der Baubranche 2011 4,6 Überstunden pro Beschäftigten geleistet wurden. Im Monat. Wöchentlich waren es demnach 1,1 Überstunden. Im Jahr zuvor sah es ganz ähnlich aus. Berücksichtigt man, dass zur Aufarbeitung eines dreiwöchigen schlechtwetterbedingten Ausfalls im Winter (120 Stunden), von April bis Oktober gerade mal 4,4 Überstunden wöchentlich geleistet werden müssten, ist umso unverständlicher, warum die Arbeitgeber auf ihrer Forderung nach einer Anhebung der Wochenarbeitszeit auf bis zu 52 Stunden beharren. „Das ist unsere Position“, so Koehnen knapp. Hinzu kommt: Die Gewerkschaften haben ihrerseits ein Zeitkontenmodell vorgeschlagen, auf das Arbeitnehmer und Arbeitgeber paritätisch zurückgreifen könnten und das den Arbeitgebern erlauben würde, die intempéries aufzuarbeiten – innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen 48-Stunden pro Woche. Den Arbeitnehmern würde es erlauben, einige Urlaubstage außerhalb der Baustoppzeiten im Sommer und Winter zu nehmen, erklärt Jean-Paul Fischer. Das aber lehnt Paul Faber vom Groupement strikt ab, weil es personalplanerisch nicht machbar sei.
Dabei ist die Forderung der Arbeitgeber nach der 52-Stundenwoche, die „keinesfalls systematisch“ sondern nur in Einzelfällen möglich sein soll, rechtlich eine ziemlich heikle Sache ist. Die 40-Stundenwoche, oder 48-Stundenwoche inklusive Überstunden, ist in der EU-Arbeitszeitrichtlinie fest verankert, Ausnahmen sind nur in wenigen Fällen erlaubt. Sogar der sonst von den Gewerkschaften als arbeitnehmerfeindlich verpönte Europäische Gerichtshof hat schon „für“ die 48-Stundenwoche geurteilt. „Zum einen ergibt sich nämlich sowohl aus dem Wortlaut (...) der Richtlinie (...) als auch aus dem Ziel und der Systematik dieser Richtlinie, dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Gemeinschaft ist, die jedem Arbeitnehmer als ein zum Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit bestimmter Mindestanspruch zugute kommen muss, so dass eine nationale Regelung, die wöchentliche Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden einschließlich der Arbeitsbereitschaft erlaubt, mit den Anforderungen dieser Bestimmung nicht vereinbar ist“ so die EU-Richter 2004 im Fall Pfeiffer, in dem es um die Arbeits- und Bereitschaftszeiten von Rettungsassistenten ging.
Kein Wunder also, dass sich Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) auf Nachfrage des Land vom Vorschlag der Arbeitgeber distanzierte, die hoffen, im Falle einer Einigung mit den Gewerkschaften auf ihre Linie könne die Gesetzgebung entsprechend angepasst werden. „So nicht“, sagt Schmit, „weil der Vorschlag konträr zur Richtlinie ist.“ In einzelnen Punkten könnte man Änderungen gesetzgeberisch begleiten, fügt er hinzu. Sicher findet auch die Regierung Gefallen an der Idee, eventuell die Ausgaben des Beschäftigungsfonds zurückzuschrauben, aus dem die Schlechtwetterentschädigungen fließen. Doch einem sozialistischen Arbeitsminister stünde es nicht sehr gut zu Gesicht, dafür im Gegenzug einer derartigen Arbeitszeitflexibilisierung Tür und Tor zu öffnen, die riskiert, Beispielcharakter für andere Branchen zu haben, wenn nicht nachzuvollziehen ist, wozu sie überhaupt notwendig ist.
Ihren Vorschlag für ein Zeitkontenmodell wollen die Gewerkschaften diskutieren, die Forderungen der Arbeitgeber hingegen nicht. „Dann geht‘s zum Schlichtungsamt“, so de Matteis. In der Zwischenzeit wollen sie die Mitglieder weiter mobilisieren. „Der nächste Termin ist auf der Straße“, rief de Matteis am Freitag kämpferisch. Dann würde ein Baustopp anderer Natur drohen.