Luxemburgensia

Der Stein bleibt ein stummer Zeuge

d'Lëtzebuerger Land vom 26.10.2000

In zehnjähriger Arbeit hat sich der Pensionär Michel Wilhelm hart an einen neuen Rekord herangeschrieben: Auf rund 3 000 Seiten sammelte er für eine der umfangreichsten Lokalgeschichten fast alles über Die Gemeinde Erpeldingen und ihre Geschichte, dem er habhaft werden konnte. Nach einem 700-seitigen Band über das Dorf Ingeldorf vor zwei Jahren reicht er nun zum 150. Jahrestag der Unabhängigkeit Erpeldingens von Ettelbrück in einer geballten Ladung einen Band über Bürden und gleich zwei Bände über den Gemeindehauptort Erpeldingen nach.

Von der geologischen Formation bis zur Kirchturmsglocke wird die 2 000-Seelen-Gemeinde seziert, von den faksimilierten Unterlagen über die "Instandsetzung eines Fahrweges vom 'Müllesch Haus' bis zum 'Michelbach'" (Erperldingen Bd. 1, S. 498) im Jahr 1839 bis zum "Aktenmaterial zum Gendarmerie-Wachtmeister Nikolaus Goedert aus Erpeldingen" (Erpeldingen Bd. 2, S. 324).

Den größten Teil des Werkes machen aber, wie in fast allen Lokalchroniken, die Familiennamen, Verwandtschaftsbeziehungen, Auszüge aus Gerichtsurteilen der Feudalzeit und alten Pfarrregister aus. So können die 715 Haushalte der Gemeinde, von denen der Kauf zumindest des ihr Dorf betreffenden Bandes erwartet wird, die Namen ihrer Großmütter und Großväter nachsuchen und gnadenlos kontrollieren, ob die Geschichte ihres Gehöfts samt Umbau der Scheune korrekt wiedergegeben wurde.

Für Einwohner anderer Dörfer oder gar entlegenerer Städte sind solche detailversessenen Dorfchroniken unlesbar, so als müssten sie tagelang die immer selben Familienfilme wildfremder Leute ansehen. Erdrückende Detailfülle täuscht aber auch über Lücken und Auslassungen hinweg. Fromm und patriotisch wird die Politik ausgeklammert, bleiben trotz aller verwirrenden Familiengeschichten die offenen Familiengeheimnisse der Dörfer - vom unehelichen Kind bis zum Gielemännchen - ungeschrieben, beschränken sich die Konflikte - immer wieder: Dorfgemeinschaft gegen Pfarrer - auf das Ancien Régime, als sei heute das Luxemburger Modell der perfekten Harmonie bis in das letzte Sauerdorf vorgedrungen.

Doch was sollen 3 000 Seiten über Erpeldingen beweisen? Was sind sie wert im Vergleich zu vier Seiten Synthese und Analyse? Trotz aller Mühe und Präzision des Autors im Ringen mit seiner ungebändigten Materialfülle erscheint das reich illustrierte Werk wie jener Stein am Straßenrand einer kahlen, dünn mit Schnee bedeckten Landschaft, über den Wilhelm sinniert: "Dieser Stein könnte möglicherweise vieles erzählen, aber er bleibt für uns ein stummer Zeuge." (Bürden, S. 519) Oder wie die Arbeit One Million Years - Past (1972) des japanischen Konzeptküntslers On Kawara, dessen Historie sich auf die säuberliche Auflistung einer Million Jahreszahlen beschränkt.

Noch einen Schritt weiter gehen die Familienchroniken der Ahnenforscher Roger und Prosper Kayser. In drei Bänden listen sie rund 15 000 Einwohner der Stadt Remich und der Gemeinden Wellenstein, Remerschen und Bürmeringen von 1660 bzw. 1760 bis 1900 auf. Vier weitere Bände dieser Telefonbücher aus der Zeit vor dem Telefon sollen folgen.

Dadurch dass die Sprachensektion des Institut grand-ducal die Bände herausgibt, erhalten diese Nachschlagewerke für Genealogen - eine beliebte Freizeitbeschäftigung in Zeiten des rechten Nostalgie- und Identitätsfimmels - sogar eine wissenschaftliche Weihe.

Michel Wilhelm: Die Gemeinde Erpeldingen und ihre Geschichte, Erpeldingen 1998-2000, 4 Bd. zus. 7 920 Franken.

Prosper und Roger Kayser: Familienchronik der Stadt Remich, der Gemeinde Wellenstein, der Gemeinden Remerschen und Bürmeringen, Institut grand-ducal Section de linguistique, d'ethnologie et d'onomastique, Luxemburg 1999, je Bd. zwischen 1 936 und 2 380 Fr.

Romain Hilgert
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