Bis zum Dienstag dieser Woche sollten rund 150 000 verheiratete Arbeiter, Angestellte und Rentner dem Steueramt mitteilen, ob sie eventuell damit einverstanden seien, künftig wie Junggesellen besteuert zu werden. Sie werden dann von der günstigeren, die Hausfrauenehe bezuschussenden Steuerklasse 2 in die teurere Basisklasse 1 zurückversetzt. Der Grund: Sie arbeiten oder arbeiteten zwar hierzulande, sie wohnen aber in Lothringen, Wallonien, Rheinland-Pfalz oder dem Saarland.
Der Vorsteher des Steueramts RTS Non-Résidents hatte allen verheirateten Grenzpendlern in einem Lohnarbeitsverhältnis oder in Rente Anfang Oktober einen Brief geschrieben, in dem er ihnen die drohenden Steuererhöhungen ankündigte. Gleichzeitig bot er ihnen an, unter gewissen Bedingungen eine „Angleichung“ an die „Ansässigen“ zu beantragen, damit sie in ihrer bisherigen Steuerklasse bleiben und weiter vom Ehegattensplitting der Klasse 2 profitieren können. Voraussetzung ist, dass sie mindestens 90 Prozent all ihrer Einkünfte hierzulande verdienen oder nicht mehr als 13 000 Euro jährlich im Ausland. Aufgrund eines bilateralen Steuerabkommens müssen belgische Grenzpendler nicht 90 Prozent des Einkommens des Antragstellers in Luxemburg verdienen, sondern weiterhin 50 Prozent des Haushaltseinkommens.
Derzeit werden über 95 000 hierzulande arbeitende Grenzpendler in der Steuerklasse 2 mit gemeinsamer Veranlagung von Verheirateten und Ehegattensplitting besteuert, wenn sie über 50 Prozent des gesamten Haushaltseinkommens in Luxemburg verdienen. Weitere 46 410, darunter auch Verheiratete, die hierzulande weniger als 50 Prozent ihres Einkommens verdienen, in der Steuerklasse 1a. Allerdings war es dem Steueramt kaum möglich, das Haushaltseinkommen im Ausland wohnender Familien zu überprüfen.
Um die Entscheidung der Angeschriebenen zu vereinfachen, bietet das Steueramt ein Rechenprogramm auf der Internetseite des Staats an. Wenn man dort seine Einkommen eingibt, kann man sich ein Bild davon machen, wie viele Steuern man bei der gemeinsamen oder der individuellen Veranlagung zahlen muss. Manche Grenzpendler, die bisher ihre ausländischen Einkommen dem Steueramt nicht mitteilen wollten, zögern aber bei der Benutzung des Simulators, weil sie befürchten, dass der Staat Geld zurückverlangen könnte.
Bisher besteuerte man verheiratete Beschäftigte, die hierzulande oder im Ausland wohnten, gleich und ging im Zweifelsfall vom gängigen Rechtsprinzip aus, dass auch Grenzpendler ehrlich sind, bis das Gegenteil bewiesen ist. Nun kehrten Regierung und Parlament das Prinzip um und gehen davon aus, dass alle Grenzpendler Junggesellen oder Steuerbetrüger sein können, bis sie den Beweis des Gegenteils erbracht haben.
In den Briefen wurden manche Grenzpendler aufgefordert, bis zum 31. Oktober einen vom Steueramt auf der Grundlage der bisherigen Steuerschuld vorgeschlagenen Steuersatz gutzuheißen oder die Steuerklasse 2 unter Vorlage aller Einkommensbelege zu beantragen. Wer dies nicht tut oder nicht antwortet, wird automatisch als Junggeselle in Steuerklasse 1 besteuert. Um der Antragsflut Herr zu werden, forderte das Steueramt alle Angeschriebenen auf, ihre Anträge über Internet auf der Webseite guichet.lu einzureichen. Weil die meisten Grenzpendler keine Luxtrust-Kunden sind, wird sogar auf die gängige Datensicherheit verzichtet.
Seither standen die Telefone des Steueramts nicht mehr still. Dutzende Beamte waren abkommandiert, um die besorgten Anfragen zu beantworten und so gut es geht, auf die oft komplexen Einzelsituationen zu reagieren. Zehntausende Betroffene, die sich keine Steuerberater leisten, suchten im Internet beim Steueramt und in den Diskussionsforen von Grenzpendlern nach Erklärungen oder fragten morgens während der Bahnfahrt bei Mitreisenden um Rat, ob die gemeinsame Veranlagung oder die Individualbesteuerung in ihrem besonderen Fall günstiger wird.
Die politische Reaktion hält sich dagegen in Grenzen. Als die Regierung 1991 in einer ähnlichen Aktion 46 900 Alleinerziehende, Verwitwete, getrennt Lebende, Geschiedene, Unterhaltspflichtige, Junggesellen über 65 Jahre und verschiedene Grenzpendler aus den damaligen Steuerklassen II und III in die ungünstigeren Klassen 1 und 1a zurückversetzte, gründeten aufgebrachte Betroffene eine Actioun fir eng méi mënschlech Steierreform und ein Komitee Alleinerzieher für gerechtere Besteuerung, sammelten Unterschriften, organisierten zwei Protestkundgebungen und schockten CSV-Finanzminister Jean-Claude Juncker noch vor der Erfindung von Facebook und Twitter mit unflätigen Beschimpfungen und Drohungen. Gegen die ersatzlose Abschaffung des Kindergelds von Grenzpendlern für Kinder über 18 Jahre hatten die Gewerkschaften im September 2010 eine gut besuchte Kundgebung organisiert.
Diesmal hatten die Gewerkschaften, die als einzige die Umklassierungen beanstandeten, lediglich dem Kammerpräsidenten eine Unterschriftensammlung mit der vorsichtigen Bitte überreicht, die Reform aufzuschieben, bis alle Unklarheiten beseitigt sind. Daraufhin hatte die Regierung etwas nachgegeben und in das Haushaltsgesetz für 2018 eine Änderung der Artikel 3ter und 157ter des Einkommensgesetztes gepackt. Wenn das Parlament sie nächsten Monat verabschiedet, werden verheiratete Grenzpendler auch dann nach Steuerklasse 2 besteuert, wenn ihr ausländisches Einkommen mehr als zehn Prozent beträgt, vorausgesetzt, dass dies weniger als 13 000 Euro ausmacht. Dies gilt beispielsweise für Bezieher niedriger Einkommen, die eine Wohnung vermieten, oder für Rentner, die in zwei Ländern arbeiteten und zwei Renten beziehen.
Als zweites Zugeständnis dürfen die Betroffenen nun bis Ende März nach Ablauf des Steuerjahrs ihre Entscheidung ändern, ob sie gemeinsam oder individuell veranlagt werden wollen. Dadurch bleibt ihnen Zeit abzuwarten, wie sich ihre Einkommenslage entwickelt hat. So wurde auch die Frist bis zum 31. Oktober aufgeweicht, binnen der sie dem Steueramt antworten sollten. Das Steueramt hatte diese Frist festgesetzt, um Zeit für die Bearbeitung der Anträge und für den Druck von Hunderttausenden von Steuerkarten zu gewinnen.
Die Regierung nutzte bei der vor einem Jahr verabschiedeten Steuerreform die symbolische Einführung der von Frauenorganisationen geforderte Individualbesteuerung Verheirateter als Vorwandt, um „im Zeichen der Gleichstellung von Einheimischen und Grenzpendlern“, so Berichterstatterin Joëlle Elvinger (DP), eine gewisse Kulanz bei der Besteuerung verheirateter Grenzpendler aufzugeben. Dass das Steueramt bei der Berechnung des Haushaltseinkommens mancher Grenzpendler und wohl vor allem der besser verdienenden nicht von allen ausländischen Einkünften wusste, schien unvermeidlich. Aber andererseits zahlen Grenzpendler auch Steuern mit denen hierzulande Schulen und Krankenhäuser gebaut werden, die sie nie benutzen, gar nicht zu reden von den ständigen Versuchen der vergangenen Jahre, sie bei den Studienbörsen, den Chèques-services und anderen sozialstaatlichen Leistungen zu prellen. Durch die kulante Besteuerung konnten die Betriebe auch attraktivere Nettolöhne auf Kosten des Staats bieten.
Zudem erlaubte diese Kulanz, den Verwaltungsaufwand bei der Besteuerung in Grenzen zu halten. Damit ist es nun vorbei, wie nicht nur die 150 000 Briefe und der Ruf nach umfassenden Einkommensbelegen zeigen. Die Salariatskammer hatte vor einem Jahr in ihrem Gutachten zur Steuerreform vorgerechnet, dass verheiratete Grenzpendler künftig nach fünf verschiedenen Regeln besteuert werden sollen, das Ganze multipliziert mit drei verschiedenen bilateralen Steuerabkommen und nun auch noch der neuen 13 000-Euro-Klausel.
Finanzminister Pierre Gramegna (DP) hatte in einem Rundfunkinterview eingeräumt, dass die Umklassierung verheirateter Grenzpendler höhere Steuereinnahmen bringen wird. Doch wenn die Lohnsteuer laut Budget plurinannuel 2018-2021 binnen vier Jahren um fast die Hälfte von heute 3 460 Millionen Euro auf 5 035 Millionen Euro im Jahr 2021 steigen soll, macht der Haushaltsentwurf keine Angaben darüber, wie viel von dieser Steigerung durch eine wachsende Zahl von Beschäftigten, durch die Inflation, durch Lohnerhöhungen und wie viel durch eine stärkere Besteuerung der Grenzpendler verursacht wird.
Das nun mit großem Aufwand erfüllte Bedürfnis nach einer „Gleichstellung von Einheimischen und Grenzpendlern“ bei der Einkommenssteuer kommt aus heiterem Himmel. Denn seit der Einführung der heutigen Steuerklassen vor bald 30 Jahren war es nie Gegenstand der öffentlichen Debatte, dass Grenzpendler gegenüber Einheimischen im Vorteil wären. Eine entsprechende Reform stand in all den Jahren nie in einem Wahlprogramm, nicht einmal in den Programmen nationalistischer Spinner. Auch im immerhin 202 Seiten langen Regierungsprogramm von 2013 wird kein Wort über eine angebliche Benachteiligung ansässiger Lohnsteuerzahler verloren. So dass sich die Annahme aufdrängt, dass der nun den Grenzpendlern aufgezwungene Informationsaustausch auch die Revanche für den dem Staat aufgezwungenen Informationsaustausch bei der Betriebsbesteuerung ist.