Rechtzeitig zu den Kammerwahlen nächstes Jahr bildet sich eine Koalition von liberalen und rechten Deficit hawks, wie in der Republikanischen Partei in den USA, in der Europäischen Kommission in Brüssel und in der Europäischen Zentralbank in Frankfurt jene genannt werden, deren oberste politische Priorität der Kreuzzug gegen ein Staatsdefizit und gegen die Staatsschuld ist. Und denen der Kampf gegen das Staatsdefizit und die Staatschuld, wie er Grundlage des Stabilitätspakts im Euro-Raum und 2014 auch hierzulande Gesetz wurde, nicht weit genug geht.
Die Deficit hawks hatten schon die Senkung des strukturellen Haushaltsziels abgelehnt und die Steuerreform kritisiert, weil sie zu großzügig gegenüber den Privathaushalten sei. Zu ihnen gehören Unternehmer, Selbstständige und ihre Berufsverbände, die die Staatsverschuldung nicht als ein Mittel ansehen, um langfristige Investitionen zu finanzieren, sondern sie stellen sie als ein moralisch verwerfliches Mittel dar, um das durch diese Investitionen entstehende Haushaltsdefizit auszugleichen.
Doch ohne eine Rückkehr zu den regelmäßig unverhofften Mehreinnahmen der Neunzigerjahre erzwänge die einseitige Finanzierung staatlicher Investitionen aus den laufenden Einnahmen Kürzungen bei den laufenden Ausgaben, die noch durch mögliche Steuersenkungen im Interesse der internationalen Wettbewerbsfähigkeit vergrößert werden müssten. Unter diesen Bedingungen ist der Kreuzzug gegen die Staatsschuld ein Mittel, um technische Sachzwänge zu schaffen, mit denen endlich die Umverteilungsfunktion des Steuerstaats beendet und der Sozialstaat selektiv auf karitative Funktionen beschränkt werden könnte.
Diesen Falken zu Hilfe kommt eine zweite Kategorie von Deficit hawks, jene Experten, die in Verwaltungen, öffentlichen Gremien, Banken und Unternehmensberaterfirmen die Skandalisierung der Staatsschuld wissenschaftlich unterfüttern. Für sie ist die Staatsschuld nicht nur die Folge eines unverantwortlichen Staatsdefizits. Sie berufen sich auf die neuklassische Theorie, die den verschuldeten Staat als eine Konkurrenz für verschuldete Privatunternehmen auf dem Kapitalmarkt darstellt, so dass durch die solchermaßen vergrößerte Nachfrage der Preis des Geldes, die Zinsen, steigen und die Privatunternehmen belasten. Allerdings gibt es nur wenige empirische Belege für diese Behauptung, und in Zeiten von Nullzinsen und dem Aufkauf von Schuldverschreibungen durch die Europäische Zentralbank klingt sie noch abwegiger.
Deficit hawks sind aber auch jene Meister des gesunden Menschenverstands, die im Parlament, in den Parteien, Medien und Verbänden ihr Expertentum dadurch unter Beweis zu stellen versuchen, dass sie besonders kompromisslos nachbeten, was der deutsche Finanzminister im Spiegel erzählt. Der Einfachheit halber halten sie einen Staatshaushalt für einen etwas größeren Familienhaushalt, die es beide auf die gleiche hausväterliche Art möglichst knauserig zu verwalten gelte.
Die Ironie der Geschichte will es, dass bis zur Mitte der Legislaturperiode auch DP, LSAP und Grüne, Premier Xavier Bettel, Wirtschaftsminister Etienne Schneider und der sowieso von der Handelskammer ausgeborgte Finanzminister Pierre Gramegna zu den Deficit hawks gehörten. Sie wollten die Finanzpolitik von CSV und LSAP unter Ausschluss der Tripartite auf die Spitze treiben und versuchten, wie die Parteivorsitzende Corinne Cahen auf dem jüngsten DP-Parteitag zu verstehen gab, einen Macronismus avant la lettre. Deshalb hatten sie sogar in ihr Koalitionsabkommen festgeschrieben, dass sie bis Ende der Legislaturperiode einen strukturellen Überschuss des Gesamtstaats von Staat, Gemeinden und Sozialversicherung von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erzielen und die Staatsschuld unter 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts halten wollten. Um ihre wilde Entschlossenheit zu demonstrieren, ließen sie sogar Hunderte Autobahnlaternen umlegen.
Doch als die Wähler bei den Europawahlen, beim Referendum und in den Meinungsumfragen zu meutern begannen, verwandelten sich die liberalen Falken in der Regierung vergangenes Jahr in Tauben und kehrten den geplanten strukturellen Überschuss von 0,5 Prozent in ein strukturelles Defizit von 0,5 Prozent um. So dass ihre Rolle nun die CSV und deren Spitzenkandidat Claude Wiseler nicht ganz freiwillig übernahmen. Der CSV geht es nicht bloß darum, liberalen Unternehmern und Selbstständigen, die 2013 zum Wahlsieg der DP beigetragen hatten und nun enttäuscht sind, eine Koalition anzubieten. Sie will gleichzeitig konservativen Wählern zeigen, dass seit dem „Werner-Frang“ die Staatsfinanzen nur in der Hand strenger, aber gerechter CSV-Finanzminister sicher sind.
Im Luxemburger Wort klagte Claude Wiseler: „Der Finanzminister betont auch, er habe die Staatsschulden stabilisiert. Auch das stimmt nicht. 2011 lag die Staatsschuld bei elf Milliarden, heute sind es 12,9 Milliarden, 2020 werden es laut den Angaben der Regierung 14,2 Milliarden sein. Das ist ein Plus von 30 Prozent! Von Stabilisierung kann also keine Rede sein.“ Doch Finanzminister Pierre Gramegna hielt dem bei der Vorstellung seines Haushaltsentwurfs entgegen: „Die Staatsschuld liegt gegenwärtig bei 12,9 Milliarden Euro. Rund elf Milliarden davon haben wir von der vorigen Regierung geerbt!“
Peinlich für die Deficit hawks ist lediglich, dass die Staatsschuld lächerlich gering ist. Mit 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts macht sie ein Drittel der vom europäischen Stabilitätspakt erlaubten 60 Prozent aus und sinkt auch ohne Inflation, weil das Bruttoinlandsprodukt schneller wächst als die Schuld. Sie ist überhaupt die zweitniedrigste aller EU-Staaten, gleich hinter Estland.
Deshalb kam nun der Conseil national des finances publiques (CNFP) den Deficit hawks zu Hilfe, indem er einräumte, dass die Staatsschuld zwar kaum der Rede wert, aber dafür in 40 Jahren dramatisch hoch sei. Der Conseil national des finances publiques wurde durch das Gesetz vom 12. Juli 2014 gegründet, mit dem die Vorschriften des europäischen Stabilitätspakts von 2012 in das Luxemburger Recht übernommen wurden. Sein Vorsitzender, Yves Nosbusch, ist Chefvolkswirt der Banque générale, die im Oktober 2008 durch eine Erhöhung der Staatsschuld um zwei Milliarden Euro vor dem Krach gerettet wurde.
In einer am gestrigen Donnerstag dem Haushalts- und Finanzausschuss des Parlaments vorgestellten Évaluation de la soutenabilité à long terme des finances publiques malt der Conseil national des finances publiques die Kurve der Staatsschuld schwungvoll weiter, bis sie im Jahr 2043 die vom Stabilitätspakt erlaubten 60 Prozent überschreiten würde. Um die Schuld bei 60 Prozent zu stabilisieren, wäre laut Kriterien der Europäischen Kommission jährlich ein mittelfristiges Haushaltsdefizit von 0,50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zulässig. Ein Kinderspiel: Vergangenes Jahr verbuchte der Staatshaushalt einen Überschuss von 2,1 Prozent.
Aber der Conseil national des finances publiques findet die Kriterien der Europäischen Kommission zu lasch und verlegt sich, bei aller Unvorhersehbarkeit, lieber auf die langfristige Perspektive und die „implizite Staatsschuld“, die durch die Anrechte künftiger Rentner entstünde, wenn die Rentenversicherung irgendwie nach einem Kapitaldeckungsverfahren funktionierte. Dann müsste der Staatshaushalt im Jahr 2060 und danach einen Überschuss von 5,7 Prozent aufweisen, damit die Staatsschuld nicht zunimmt, andernfalls würde sie bis 2060 kumuliert um 880 Prozent wachsen.
Also rät der Conseil national des finances publiques in seinem Gutachten, ungenannte „wichtige Anpassungen am Finanzierungssystem der Sozialversicherung“ vorzunehmen und das mittelfristige Haushaltsziel von -0,50 Prozent auf mindestens +0,25 Prozent zu erhöhen. So wie es CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler schon im Oktober vergangenen Jahres bei der Vorstellung seines Plang fir Lëtzebuerg versprochen hatte.