Im Oktober nächsten Jahres sollen ein neues Parlament und damit eine neue Mehrheit und eine neue Regierung gewählt werden. Auf der Grundlage ihrer Wahlprogramme soll diese Koalition die Politik der nächsten Legislaturperiode beschließen. Aber vielleicht ist das alles gar nicht nötig.
Denn vergangene Woche schickte die Regierung die 18. Aktualisierung ihres Stabilitäts- und Wachstumsprogramms an die Europäische Kommission in Brüssel. Und mit diesem Programm legt die aktuelle Regierung im Grunde schon die Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik der nächsten Regierung fest, wer immer es sein wird, und dies bis über die Hälfte der nächsten Legislaturperiode, bis Ende 2021.
Das erste Stabilitätsprogramm dieser Art war wenige Wochen nach Einführung der gemeinsamen Währung im Februar 1999 von Finanzminister Jean-Claude Juncker (CSV) nach Brüssel geschickt worden. Es war ein bloß 13 Seiten langes Dokument mit einem dilettantischen, fähnchengeschmückten Umschlag, das in einer Grafik über die Entwicklung des Haushaltsüberschusses gipfelte, der alchemistischen Formel europäischer Finanz- und Währungspolitik.
Die damals elf Wirtschafts- und Finanzminister der Euro-Staaten hatten sich verpflichtet, trotz der großen Sozial- und Produktivitätsunterschiede in der Eurozone, eine Finanzpolitik zu betreiben, deren oberstes und in Wirklichkeit einziges Ziel die Stabilität der gemeinsamen Währung sei. Deshalb schickten sie Stabilitätsprogramme an die Europäische Kommissionen, um ihre öffentlichen Finanzen kontrollieren zu lassen, wie es in der Einführung des ersten Luxemburger Programms hieß (S. 2). Alle weiteren Programme seither sind jährliche Aktualisierungen, inzwischen 18, des ursprünglichen Programms von 1999, wobei die Projektionen immer ein Jahr weiter in die Zukunft gerückt werden.
Im November 2001 hatte die Regierung erstmals ein Programm an die Europäische Kommission geschickt, das, als Zugeständnis an die keynesianistischen Kritiker der monetaristischen Euro-Politik, „Stabilitäts- und Wachstumsprogramm“ hieß. Aber dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stabilitätspolitik im Euro-Raum ein einzigartiges Instrument zur ökonomischen Disziplinierung, zur Eingrenzung der Lohn- und Sozialpolitik ist. Auch wenn die Staatsverschuldung hierzulande so niedrig ist, dass es großer Anstrengungen bedarf, um den Wählern mit den Schulden Angst zu machen.
Die Finanzkrise von 2008 und die danach steigende Staatsschuld ermöglichten dann die europaweite Institutionalisierung der Austeritätspolitik. Hierzulande übernahm das Parlament sie im Juli 2014 mit dem Gesetz über die Koordinierung und die Verwaltung der öffentlichen Finanzen. Durch dieses mit qualifizierter Mehrheit verabschiedete Gesetz trat es einen großen Teil seiner 1848 in die Verfassung geschriebenen Finanzsouveränität an eine Defizitbremse, ein mittelfristiges Haushaltsziel, einen Korrekturautomatismus und einen mittelfristigen Finanzrahmen ab.
Die neuste Aktualisierung des Stabilitätsprogramms schreibt die Entwicklung der Steuereinnahmen bis 2021 vor, das heißt während der drei ersten Jahre der nächsten Regierungskoalition. So sollen die Einkommens- und Vermögenssteuern, das heißt vor allem die Lohnsteuer der Beschäftigten und die Körperschaftssteuer der Unternehmen, gegenüber heute um ein Viertel zunehmen, vier Prozentpunkte mehr als das Bruttoinlandsprodukt (S. 37). Die Steuerreform soll diese Entwicklung nächstes Jahr nur wenig abbremsen.
Die Produktions- und Importabgaben sollen dagegen weit langsamer zunehmen als die Produktion und die Importe: Während das Bruttoinlandsprodukt bis 2021 um 21,34 Prozent zunehmen soll, sollen diese Steuereinnahmen, das heißt vor allem die Mehrwertsteuer und Akzisen, nur um 16,92 Prozent wachsen (S. 37). Die Kapitalsteuern, wie die Erbschaftssteuer, sollen auch unter der nächsten Regierung unbedeutend bleiben und konstant ein Tausendstel des Bruttoinlandsprodukts ausmachen.
Das Stabilitätsprogramm bietet damit theoretisch einer nächsten Regierung kaum Spielraum, um eine andere Steuerpolitik zu betreiben, um beispielsweise die ab und zu von der LSAP erörterte Gewichtung zwischen der Besteuerung der Unternehmen und der Lohnabhängigen, zwischen Einkommens- und Verbrauchsteuern deutlich zu ändern, eine einst von den Grünen für unumgänglich gehaltene ökologische Steuerreform vorzunehmen oder die im Rifkin-Bericht geforderte Besteuerung entlang der Kreislaufwirtschaft.
Die Aktualisierung des Stabilitätsprogramms engt auch bis in die nächste Legislaturperiode den Spielraum des Sozialstaats ein. Während sowohl die Wohnbevölkerung als auch die Zahl der Beschäftigten weiter rapide steigen, sollen die Sozialleistungen bis 2021 langsamer als das Bruttoinlandsprodukt wachsen. Danach soll das Bruttoinlandsprodukt um 21,34 Prozent zunehmen, die Sozialleistungen in Natur sollen aber lediglich um 18,64 Prozent wachsen, die Geldleistungen um 19,70 Prozent. Obwohl die Arbeitslosenquote nach einem zweijährigen Rückgang mit 6,9 Prozent im Jahr 2021 über der für dieses Jahr geschätzten Quote von 6,0 Prozent liegen soll, sieht das Stabilitätsprogramm vor, dass die Arbeitslosenhilfe um 13,33 Prozent gesenkt werden soll, von 404 Millionen auf 350 Millionen, wenn man ihren Anteil am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt rechnet.
Im Rahmen des Stabilitätsprogramms ist nicht vorgesehen, dass aus den Wahlen nächstes Jahre eine Regierungsmehrheit hervorgeht, die den Anteil der Sozialleistungen am Volksvermögen erhöhen oder bloß konstant halten, die von einer liberalen Sozialpolitik abkehren will, die Sozialpolitik zunehmend auf eine karitative Armenpolitik beschränkt. Da Sozialleistungen zu den wichtigsten Mitteln des Steuerstaats zur Umverteilung des Volksvermögens gehören, läuft die rückläufige Sozialleistungsquote bei einer wachsender Zahl von Bezugsberechtigten auf eine Umverteilung von unten nach oben hinaus.
Ziel dieser Politik ist es, jährlich einen strukturellen Saldo der öffentlichen Hand auszuweisen, der über dem vergangenes Jahr neu festgelegten Ziel von -0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. Er soll von +0,4 Prozent dieses Jahr auf +1,6 Prozent im Jahr 2021 steigen. Dass der strukturelle Saldo nächstes und übernächstes Jahr negativ wird, führt das Stabilitätsprogramm darauf zurück, dass die zu seiner Berechnung herangezogene Produktionslücke wegen des hohen Wirtschaftswachstums und der damit verbundenen hohen Auslastung des Produktionsapparats zurückgeht und sogar positiv wird. Wobei eine niedrige Auslastung als Bedrohung empfunden wird, weil dadurch Kapital brach liegt und die Produktivität geringer ist, während eine hohe Auslastung ebenfalls als Bedrohung empfunden wird, weil die Nachfrage nach Arbeitskräften zunimmt und so die Löhne steigen.
In dem Stabilitätsprogramm bescheinigt die Regierung sich selbst eine „action courageuse et déterminée du Gouvernement“ (S. 9) und kündigt an, dass ab 2019 „la situation des finances publiques se redresse graduellement pour passer d’un surplus de 343 millions d’euros ou 0,5% du PIB en 2019 à un surplus de 835 millions d’euros ou 1,2% du PIB en 2021“ (S. 15).
Die Schlüsselfrage bleibt selbstverständlich, in welchem Umfang die aktuelle Regierung mit dem Stabilitätsprogramm vollendete Tatsachen für die nächste Regierung schafft. Vollendete Tatsachen sollen insofern geschaffen werde, als keine Regierung von der Ausrichtung der Stabilitätspolitik im Euro-Raum abweichen soll. Allerdings ist das Programm eine mehr oder weniger mechanische Fortschreibung der bisherigen Wachstumszahlen, Steuereinnahmen und Sozialausgaben, die immer wieder auch korrigiert werden müssen. Zum anderen bewegt sich die Wirtschaftspolitik aller großen Parteien, von CSV über DP und LSAP bis zu den Grünen, sowieso streng im Rahmen der europäischen Stabilitätspolitik und sie bedienen sich ihrer, um ihre Politik mit technischen Sachzwängen zu rechtfertigen. Stellt das Stabilitätsprogramm einen engen Rahmen dar, lässt es den Wählern keine Wahl und ist undemokratisch; stellt es keinen engen Rahmen dar, besteht es bloß aus Extrapolationen und ist belanglos.