d’Land: Sie werden am Samstag im Rahmen der Art Week in Luxemburg über ihr Buch Siegerkunst sprechen, ein bahnbrechendes Buch für viele Leute über einen Begriff von Kunst, die nicht mehr fürs Volk oder das Museum gemacht wird, sondern für die Reichen dieser Welt, die Kunstwerke als Wertsachen horten oder in ihre Banken und Büros hängen... Wie kamen Sie zu dieser Analyse? Passt Sie noch immer?
Wolfgang Ullrich: Es geht nicht nur um das Horten der Reichen, es geht natürlich auch darum, dass die Reichen sich gerne mit der Kunst zeigen, dass also die Kunst in ihren Kreisen eine starke repräsentative Funktion hat und eben nicht jene, die man ihr in der Moderne zugetraut oder zugemutet hat, als man dachte, Kunst müsse den Betrachtern läutern oder die Gesellschaft verändern oder irgendeine Form von Sinnstiftung leisten. Das hat sich jetzt umgekehrt und es ist wieder wie in vormodernen Zeiten üblich, dass man die Kunst nutzt, um eher repräsentative Zwecke zu erfüllen. Also dass sie das Image desjenigen, der sie besitzt, steigern soll, dass sie Eindruck machen soll, dass sie sogar einschüchtern soll, weil das breite Publikum vielleicht nicht versteht, warum man so viel Geld dafür ausgeben soll.
Diese Diagnose würde ich heute noch genauso machen, jetzt, anderthalb Jahre, nachdem mein Buch erschienen ist. Das sind Dinge, die sich nicht so schnell ändern, dieses Phänomen kann man ab den 1970er oder 80er-Jahren schon erkennen. So richtig sichtbar geworden ist es in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren, vor allem dadurch, dass ja der Kunstmarkt so enorme Aufschwünge erlebt hat und einzelne Künstler so unheimlich teuer geworden sind, dass der Preis hier eine ganz andere Rolle spielt, eine ganz andere Funktion hat. Der Preis ist nicht mehr unbedingt nur ein Indikator für die künstlerische Bedeutung, sondern hat nun auch eine repräsentative Funktion und soll zeigen, wie reich jemand ist oder wieviel Geld jemand bereit ist, für eine einzelne Sache auszugeben.
Diese Art von Kunst wird auch von einer besonderen Art von Künstlern gemacht, Sie beschreiben das in Ihrem Buch, von Leuten wie Takashi Murakami oder Jeff Koons, die eine gefällige Kunst in fabrikähnlichen Ateliers erschaffen und den Markt ständig im Blick haben... Ist das eine Wechselwirkung? Wer beeinflusst wen? Der Markt die Kunstform oder der Künstler den Markt?
Also sicher ist das eine wechselseitige Beeinflussung, ich würde auch gar nicht nur sagen, dass diese Künstler, die Sie nennen, eine gefällige Kunst machen. Also sicher hat sie eine gefällige Dimension, weil sie mit Sujets arbeiten, die aus der Popkultur, der Massenkultur kommen. Aber gerade deshalb überrascht ja dann auch wieder, dass solche trivialen, alltäglichen Sujets, die noch dazu ziemlich massenhaft fabriziert werden in den Werkstädten der Künstler, dass die jetzt so unglaublich hohe Preise erzielen, und damit für das breite Publikum die Frage umso präsenter wird, warum jemand für so etwas so viel Geld ausgibt. Damit kann aber die Person, die das Geld ausgibt, sich umso stärker als rätselhaft, als ungewöhnlich, als besonders potent oder verschwenderisch zeigen und damit interessant machen. Das würde nicht gelingen mit Kunstwerken, die vielleicht genau dem entsprechen, was ein breites Publikum sich unter Kunst vorstellt, als etwas, das eine besondere Stimmung, ein ungewöhnliches Motiv hat, oder wo man das Gefühl hat, da hat der Künstler selber daran gelitten, als er das geschaffen hat, oder da ist ganz viel individuelle Erfahrung eingeflossen. Das ist ja bei diesen Werken nicht der Fall. Gerade deswegen sorgt das Verhältnis zwischen dem, was man sieht, und dem Preis, der dafür gezahlt wurde, für eine Art Paradoxie oder für einen Skandal oder ein Rätsel, und das beschäftigt die Menschen. Es beschäftigt die Menschen weniger die Kunst als der Preis, der dafür gezahlt wurde, und die Person, die diesen Preis gezahlt hat.
Kann man sagen, dass Sie bücherübergreifend, also jetzt in den letzten drei Büchern, Der kreative Mensch, Siegerkunst und in dem aktuellen Buch Wahre Meisterwerte, das große Thema Selbstdarstellung oder Repräsentation behandeln?
Das kann man auf jeden Fall so sagen. Der Unterschied zwischen dem Buch Siegerkunst und den beiden anderen Büchern, Der kreative Mensch und Wahre Meisterwerte, besteht darin, dass in den beiden letztgenannten mich eher interessiert, wie sich Milieus und Menschen artikulieren und zeigen, die vielleicht bisher, in früheren Gesellschaftsformen, dazu weniger Möglichkeiten hatten. Wir haben heute eine Wohlstandskultur, wir haben eine Kultur mit digitalen Medien, wo viele Menschen relativ einfach und ohne großen Zeitaufwand und ohne eine spezifische Begabung haben zu müssen, in der Lage sind, der Öffentlichkeit mitzuteilen, was sie denken, wie sie sich fühlen, wozu sie sich bekennen. Wir haben sogar einen gewissen Druck in unserer Gesellschaft, dass man sich möglichst oft und dann möglichst vielfältig artikuliert und bekennt und die sozialen Medien bespielt und zu allen möglichen Ereignissen Stellung bezieht und sich identifiziert. Das ist also tatsächlich eine neue Bekenntniskultur, die insgesamt besteht und sehr, sehr viele Menschen erfasst hat. Das Bekenntnis zum eigenen, vielleicht hohen sozialen Status, zum eigenen Reichtum, zur eigenen Macht, das wäre dann die spezifische Form, in der es um Siegerkunst geht, und dafür ist dann eben die bildende Kunst geeignet. Aber wenn Sie sich bekennen wollen, dass Sie eine bestimmte politische Meinung haben, oder zu einem bestimmten Lebensstil, einem bestimmten Ernährungsstil, zu einer bestimmten Art und Weise, ein Sozialleben zu pflegen, dann werden Sie eine bestimmte Art von Bildern in den sozialen Medien posten oder werden es auf andere Weise sichtbar machen.
Was ist denn für Sie der Unterschied zwischen Werten und Tugenden? Sie setzen sich damit in Ihrem letzten Buch auseinander...
Ich glaube, dass Werte so gut in unsere heutige Gesellschaft passen, weil sie diesem Anspruch, dem wir alle mehr oder weniger unterliegen – dass wir kreativ sein sollen, dass wir auch uns ausdrücken sollen, dass wir unser Leben und unsere Vorlieben sichtbar machen sollen –, sehr gut Genüge leisten. Bei Werten haben wir immer die Vorstellung, das ist etwas, was für sich alleine so ganz abstrakt und noch gar nicht real ist, sondern das ist etwas, das noch realisiert werden muss, was gelebt werden muss, wo also auch für jeden Einzelnen ein bestimmter gestalterischer Spielraum bleibt. Jeder von uns kann denselben Wert noch ein bisschen anders zum Ausdruck bringen oder artikulieren, während wir bei Tugenden das Gefühl haben, die stehen schon völlig fest, da ist völlig klar, was man tun muss, damit man diese oder jene Tugend erfüllt. Hier sind wir eher in einer Position, dass wir das Gefühl haben, einem Ideal hinterherzulaufen, das wir mal besser und mal schlechter erreichen, aber eben nicht diesen individuellen Gestaltungsspielraum haben wie bei Werten. Das macht Werte so verheißungsvoll, so attraktiv und gibt uns das Gefühl, wir seien genauso moralisch, wie wenn wir Tugenden erfüllen würden, aber zugleich auch noch kreative Individuen.
Sie nennen in ihrem Buch Beispiele der Allgegenwart der Werte heute, das reicht vom Deofabrikanten, der sich auf Werte wie Frieden und gute Laune beruft, bis zur Idee, einen bindenden „Wertekatalog“ für Zuwanderer in Deutschland einzuführen...
In Deutschland kam diese Idee Ende 2015 auf, als die Frage war, wie kann man die Menschen, die aus fremden Kulturen kommen, besser integrieren, und die Überlegung war, ob es vielleicht ausreicht, dass sie einen Wertekatalog unterschreiben und sich zu Werten, wie zum Beispiel Gleichberechtigung der Geschlechter, bekennen. Erst einmal denkt man, das ist eine schöne Idee, weil in einer solchen Verpflichtung ein bestimmtes Verhalten nahegelegt oder vorgegeben wird. Aber man merkt ja dann auch schnell, dass gar nicht so klar ist: Was sind denn die Werte, auf die man alle Menschen verpflichten kann? Dass so ein Plural etwas sehr Unbestimmtes hat. Wir sprechen gerne von Werten, so untereinander wissen wir dann schon ungefähr, was wir meinen, aber wenn es drum geht, das konkret zu machen, ist es gar nicht so einfach.
Ich glaube, zu der Idee ist es gekommen, weil wir alle schon ein Stück weit gewohnt sind, Werte dann doch so als einzeln verpackte Entitäten zu begreifen von unserem täglichen Konsumverhalten, weil eben sehr viele Marken, sehr viele Hersteller auch damit werben für ihre Produkte, indem sie uns glauben machen, dass in den Produkten bestimmte Werte realisiert werden, dass sie uns die Möglichkeit geben, uns auch allein durch deren Konsum zu Werten zu bekennen und damit auch schon wieder etwas Aktives zu tun. Und weil wir in jedem Supermarkt bestimmte Werte konsumieren können, neigen wir dazu zu glauben, man könnte alle diese Werte so schön untereinander auf eine Liste schreiben und dann kann jemand anderer dazu verpflichtet werden, diese Liste zu unterschreiben. So einfach ist es aber natürlich leider nicht.
Sie sehen auch soziale Unterschiede bei den Werten. Sie sprechen zum Beispiel von der „Moralaristokratie“. Was verstehen Sie darunter?
Es ist ja so, dass Werte etwas sind, was man erst realisieren muss, wo man erst die Medien und Formen finden muss, wie und wo man sich dazu bekennen kann, wo es viel um Konsumverhalten geht, dass man über bestimmte Dinge, die man kauft, Werte auch zum Ausdruck bringt. Dann wird ja schon deutlich, dass das Bekennen von Werten nicht voraussetzungslos ist. Also man braucht bestimmte materielle Möglichkeiten dafür. Man braucht Geld, man braucht vielleicht auch Zeit, um ein Wertebekenntnis zum Ausdruck zu bringen; man braucht vielleicht sogar eine bestimmte Bildung oder eine bestimmte Begabung, um diesen individuellen Spielraum, den das Verwirklichen von Werten eröffnet, auch ausfüllen zu können, und insofern sind eben nicht alle Menschen gleichberechtigt in ihren Möglichkeiten, nach ihren Werten zu leben.
Das führt dazu, dass manche sich in der Öffentlichkeit präsentieren können als Menschen, die sehr moralbewusst, sehr „gut“ leben, und andere Menschen das in der Öffentlichkeit überhaupt nicht sichtbar machen können und deshalb schnell auch ins Abseits geraten. Während umgekehrt diejenigen, die die ganze Zeit zeigen können, wie korrekt, wie gut, wie moralisch, wie sinnvoll sie leben, sich insgesamt vielleicht als besser oder als überlegen fühlen und letztlich sogar auf die anderen mit gewisser Arroganz, mit gewissem Dünkel herabschauen und auf diese Art etwas wie eine „Moralaristokratie“ oder ein „Moraladel“ entsteht und auf der anderen Seite etwas wie ein „Moralproletariat“. Die Menschen, die zwar vielleicht völlig korrekt leben im Sinne der Gesetze, die rechtschaffen sind, die auch natürlich immer sagen würden, sie halten sich an Werte oder an Traditionen, sie haben einen starken Begriff von Familie oder von Ehre, trotzdem, weil sie sich eben nicht aufregend interessant in Szene setzen können mit ihren Wertbekenntnissen, vergleichsweise zu bieder, zu harmlos, zu langweilig erscheinen und eine gewisse Abwertung erfahren von anderen Milieus. Das Problem besteht meiner Meinung nach darin, dass man immer gleich den Schluss macht, wer für Werte einsteht ist auch schon ein moralisches Vorbild für andere, so dass den Menschen, die sich hier einseitig hervortun, zu viel Kredit gegeben wird.
Das Phänomen findet man auch in der Kunst. Sie sprechen in ihrem Buch unter anderem vom Berliner Zentrum für politische Schönheit, das seine Kunst auch mithilfe von Werten vermarktet. In einem Essay, der bei Perlentaucher.de erschienen ist, sagten Sie diesen Sommer ein „Schisma“ der Kunst voraus, wo sich alternative, unabhängige und politische Kunst trennen wird von eben der marktkonformen „Siegerkunst“. Können Sie diese Idee noch einmal erläutern?
Tatsächlich glaube ich, dass es zwei extreme Bewegungen gibt im gesamten Feld der Kunst. Die eine haben wir vorher besprochen, also, dass Kunst vor allem repräsentativen Zwecken zu genügen hat und vor allem durch ihren Preis und ihre Stellung auf dem Markt definiert wird. Und auf der anderen Seite haben wir eine Kunst, die auf dem Markt überhaupt nicht auftaucht. Das kann eine Kunst sein, die von Kuratoren gezielt in Auftrag gegeben oder zumindest ausgewählt wird, oder eine Kunst aus dem Bereich des Politaktivismus, des „Artivismus“, die vor allem darüber definiert ist, dass sie bestimmte mehr oder weniger aktuelle politische Themen verhandelt, dass sie eben auch eine Form ist, sich zu bestimmten Werten zu bekennen, aber eigentlich ihrerseits nicht mehr unbedingt darüber definiert ist, dass sie jetzt formal oder inhaltlich besonders autonom wäre oder Eigenschaften hätte, die sie als Werke an sich interessant machen oder in irgendeiner Weise in einem spannenden Verhältnis stehen zu dem, was in der Geschichte der Kunst geschaffen wurde. Also eine Kunst, die durch die von außen kommenden Themen definiert ist, so wie die andere Kunst, die auf dem Markt so erfolgreich ist, eben durch den Preis definiert ist, der für sie gezahlt wird.
Das ist das, was ich mit dem Begriff des Schismas versuche zu beschreiben. Das, was in der ganzen Moderne als autonome Kunst selbstverständlich war und zu einer unglaublichen Dynamik, auch an Stilen und an formalen wie inhaltlichen Entwicklungen geführt hat, dass das ausblutet, ausgezehrt wird durch diese zwei zentrifugalen Kräfte, wo die Kunst nicht mehr aus sich heraus bestimmt wird, sondern aus anderen Faktoren heraus, einmal dem Geld und zum anderen der politischen Aufladung.