Es geht um die dritte Dimension. Oder gar um eine vierte Ebene des Seins? Als A. Square, Bewohner des imaginären Flatlands in der gleichnamigen Realsatire des britischen Autors Edwin Abbott Abbott (geschrieben 1884), seiner zweidimensionalen Welt mehr Tiefe geben möchte und die ganze Realität der Scheibenwelt in Frage stellt, wird er als Ketzer gebrandmarkt und eingekerkert. Es scheint vordergründig eine Frage der Physik und Mathematik, der Philosophie und des Diskurses zu sein – in Flatlands. Hintergründig geht es jedoch um die Überwindung von gesellschaftlichen Barrieren, von Ausgrenzung über unveränderliche Merkmale, über Festschreibungen durch die Gesellschaft oder die Umwelt, von vorgeschriebenen und tradierten Sichtweisen, schließlich auch um Heilsversprechen, die eine neue Dimension in der Realität bedeuten und bringen könnte.
Übertragen auf die zeitgenössische Kunst kann das Werk von Abbott als Parabel dafür gelten, was man sieht und wie man das wahrnimmt. So beschreibt Abbott ausführlich die komplizierte Methode, mit der die Bewohner seiner fiktiven zweidimensionalen Welt erkennen, welche Form – und damit welche gesellschaftliche Stellung – ihr Gegenüber hat und wie folglich mit ihnen umzugehen ist. In der Gegenwartskunst eine altbekannte Problemstellung, die oftmals in dem Bonmot verkürzt wird, dass sich über Kunst und Geschmack vortrefflich streiten lasse, oder in der totgerittenen Floskel: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Genau diesen Positionsbestimmungen widmet sich nun die Schau Flatland / Abstractions narratives #2 im Mudam. Die Ausstellung vereint 20 zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, die dem Werk des englischen Theologen Abbott in besonderer Weise und in doppelter Hinsicht verbunden sind: „Zum einen konstruieren sie Geschichten aus abstrakten Formen, zum anderen könnte man sie, da in ihren Werken die Begriffe ‚Abstraktion’ und ‚Narration’ zusammenfinden, aus einer bestimmten kunstgeschichtlichen Perspektive als Häretiker bezeichnen“, wie es die Ausstellungsmacherinnen zusammenfassen.
Exemplarisch mag dafür das Werk der Luxemburgerin Vera Kox stehen. Im Kontext zu Abbott: „Ich selbst bin keine ebene Figur, sondern vielmehr ein Körper“, heißt es in Flatland. „Sie nennen mich einen Kreis; in Wirklichkeit aber bin ich kein Kreis, sondern bestehe aus unzähligen Kreisen von unterschiedlicher Größe.“ Es klingt ein wenig nach einer literarischen Vorab-Beschreibung von Kox’ Werk-Serie Ponderous push aus dem Jahr 2014. Verschiedenfarbige Metallrohre treffen auf weiche Formen, versinken darin, werden von davon umschlossen, umfasst, verborgen, umklammern diese, brechen sie, unterbrechen sie. Oder mit Abbott: „Sie leben auf einer Ebene. Was Sie als ‚Flächenland’ betiteln, ist eine ausgedehnte glatte Schicht einer Substanz, die ich als Flüssigkeit bezeichnen könnte, auf – oder in – deren Oberfläche Sie und Ihre Landsleute sich umherbewegen, ohne sich darüber zu erheben oder darunter abzusinken.“ Aggregatbeschreibungen, wie sie sich als roter Faden durch das Werk von Vera Kox ziehen.
Und dabei den Betrachter im Unklaren darüber lassen, ob die bunte Metallröhre nun in einem flauschig weichen, kuscheligen Kissen ruht oder in eine harte Masse eingefügt ist, die ein ebensolches Kissen unverwüstlich nachbildet. Kox spielt mit den Seh- und Lebensgewohnheiten der Betrachter. Eine Form X, die deutlich an ein Kissen erinnert, kann – im Auge des Betrachters – nur eine weiche, wohlfühlende Form haben, vor allen Dingen dann, wenn sie im Kontrast mit der harten, geradlinigen, kühlen, zweckgebundenen Form einer Metallröhre steht. Oder muss die von Kox oft zitierte Polster-Verpackungsfolie immer unbeständig und mit einem „Plopp“ zerstörbar sein, oder kann sie nicht doch fest in Gips gegossen, schwer und damit selbst schutzbedürftig sein? Es geht um eigene Vorurteile, wie um die eigene Wahrnehmung, um die Bestimmung der eigenen Welt als dreidimensionaler Raum im zeitlichen Kontinuum mit all seinen Grenzen und Einschränkungen. In der zweidimensionalen Welt von Abbott ist dies ein schier unauflösliches Paradoxon von Fläche und Tiefe: „Denn selbst eine Kugel – das ist meine eigentliche Bezeichnung in meinem eigenen Land –, kann sich einem Einwohner Flächenlands, sofern er sich diesem überhaupt zeigt, nur als Kreis zeigen.“ Damit lenkt Abbott in seiner flachen Welt den Blickwinkel auf die Rezeption durch Ausstellungsbesucher. Das Mudam setzt das Werk von Vera Kox in den direkten Kontext zu den Werken anderer zeitgenössischer Künstler.
Dies kann gründlich in die Hose gehen, wie sich in der jüngsten Gemeinschaftsausstellung von Kox zeigte. Die Berliner Schau Silent empire setzte dabei auf ein abgegriffenes Narrativ: ein Hinterzimmer in einem abbruchreifen Gemäuer mit sagenumwobener Geschichte wird an wenigen Tagen zur Bühne für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler. Bei Silent empire war es das Funkhaus Berlin, die Sendezentrale des Staatsfernsehens der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Auf einer Schnitzeljagd durch Treppenhäuser wurde der geneigte Betrachter in den abseitigen Teil des Gebäudes gelenkt, um mit einem Sammelsurium an Gegenwartskunst konfrontiert zu werden. Irgendwo am Eingang lagen schlecht kopierte Zettel auf der Erde, die Auskunft über Künstler und Werktitel gaben, für den Ausstellungsbesucher aber weder eine Handreichung zum näheren Verständnis des Kunstwerks an sich waren, noch des Kunstwerks als solchem im Kontext der Schau; einerseits was die weiteren anwesenden Kunstschaffenden und andererseits was den Titel der Ausstellung betraf. Hier zeigen sich Grenzen in der Wahrnehmung der Gegenwartskunst generell, auch wenn die Macher von Silent empire dies kaum beabsichtigt hatten. Es bleibt ein schmaler Grat zwischen Zuwendung und Wegschauen, zwischen Interesse und Genervtsein. Hier bestand das gezeigte Œuvre von Vera Kox ob seiner Qualität, musste sich aber dennoch der Diskussion über die Sinnhaftigkeit und Aussagekraft zeitgenössischer Kunst stellen.
Das Luxemburger Mudam setzt Kox Werk in einen anderen Zusammenhang, in ein anderes Narrativ. Demjenigen des Abstrakten und nicht des zeitgenössischen per se. Die Abstraktion als die eigentliche Abkehr von der Narration, die „man leicht als Widerspruch in sich“, als unmöglich bezeichnen kann, so der Begleittext zur Luxemburger Schau. Eine Position, die jedoch durch die Gegenwartskunst aufgehoben werde und demnach nicht mehr haltbar sei. Die Macher der Ausstellung weisen damit auf das erwähnte Paradoxon der modernen Kunst hin. Mit seiner aktuellen Präsentation will das Mudam genau dieses in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken: „Wenn ich Ihre Ebene schneide wie gerade eben jetzt“, schreibt Edwin Abbott Abott in Flatlands, „erzeuge ich in Ihrer Ebene einen Anschnitt, welchen Sie, ganz zutreffend, als Kreis bezeichnen.“