Das Wahlprogramm der LSAP plädiere „ganz klar für ein Herabsetzen der Arbeitszeit bei gleichem Lohn“, weil die Digitalisierung, die Robotisierung und die künstliche Intelligenz mit weniger Beschäftigten steigende Produktivitätsgewinne verursachten, meinte Wirtschaftsminister und Spitzenkandidat Etienne Schneider vor drei Wochen auf dem Programmkongress seiner Partei. Denn „es kann nicht sein, dass dies bloß den Unternehmern zugutekommt. Wir müssen deshalb die Digitalisierung nutzen, um dadurch auch den schaffenden Leuten entgegenzukommen und bei gleichem Lohn ihre Arbeitszeit verringern zu können“. Die Kongressdelegierten applaudierten.
So zieht das Arbeitsrecht nach langer Abwesenheit wieder in den Wahlkampf ein. Seit die Sozialpartner soziale Konflikte mit abgeschotteten Tripartite-Konzilen in dem gold- und stuckverzierten ehemaligen Refugium der Abtei Sankt Maximin zu befrieden versuchten, seit die traditionellen Versprechen eines sozialen Fortschritts den Forderungen nach Deregulierung, Flexibilisierung und Wettbewerbsfähigkeit zum Opfer fielen und keine Partei mehr den Index in Frage zu stellen wagte, war das Arbeitsecht nicht mehr Gegenstand öffentlicher Debatten im Wahlkampf. Es tauchte bestenfalls noch in den Wahlprogrammen kleiner Linksparteien auf, die sich kein Gehör zu verschaffen wussten. Selbst Unternehmer und Gewerkschaften waren sich meist einig, arbeitsrechtliche Fragen auf Betriebs- oder Branchenebene unter sich auszuhandeln und Regierung und Parlament herauszuhalten, auch wenn das auf Kosten der gering organisierten Beschäftigten von Klein- und Mittelbetrieben ging.
Dieses Jahr werden es zufällig hundert Jahre, dass die Arbeitszeit gesetzlich geregelt ist. Die Erfahrung lehrt, dass eine Senkung der gesetzlichen Arbeitszeit nicht, wie nun vom Wirtschaftsminister geplant, von oben kam, sondern stets das Ergebnis von Arbeitskämpfen war, bei denen einflussreiche Branchen eine Vorreiterrolle spielten. Im liberalen 19. Jahrhundert der Zehn- und 12-Stundenarbeitstage war 1876 lediglich die Arbeitszeit von Kindern beschränkt worden, etwa durch den Achtstundentag für Zwölfjährige. Zum Schutz der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wurde aber 1883 die Arbeitszeit von 14-Jährigen wieder auf elf Stunden am Tag erhöht.
Die erste gesetzliche Arbeitszeitregelung für erwachsene Arbeiter erfolgte 1918. In der Regimekrise am Ende des Ersten Weltkriegs griff die Regierung angesichts der sich radikalisierenden Arbeiter auf ein Vollmachtengesetz aus dem Krieg zurück, um den Großh. Beschluss vom 14. Dezember 1918, betreffend Einführung des Achtstundentags in einer 48-Stundenwoche zu erlassen. 1928 ratifizierte das Parlament die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation von 1921 über den Achtstundentag und die 48-Stundenwoche in der Industrie, auch wenn die Schichtarbeiter der Stahlindustrie weiter de laangen Tour von sieben Tage lang acht Stunden im kontinuierlichen Betrieb arbeiten mussten.
1959 ratifizierte das Parlament die Konvention von 1930 über den Achtstundentag und die 48-Stundenwoche im Handel und in den Büros, die 1959 auch den Berufsfahrern im Straßentransport zugestanden wurde. Nach längeren Gewerkschaftskampagnen und Streikaktionen im Bergbau und in der Stahlindustrie wurde durch das Gesetz vom 20. April 1962 die 44-Stundenwoche und vom 12. November 1972 die 40-Stundenwoche für Angestellte eingeführt. Das Gesetz vom 9. Dezember 1970 senkte die Wochenarbeitszeit der Arbeiter ab 1971 auf 44 Stunden und ab 1975 auf 40 Stunden. Anders als in den Nachbarländern fand seit den Achtzigerjahren hierzulande keine breite Bewegung für die 35-Stundenwoche statt, so dass die gesetzliche Arbeitszeit seit nun über 40 Jahren unverändert blieb, trotz aller Produktivitätsgewinne durch die seither eingeführten technischen Innovationen.
Das Tripartite-Abkommen von 1998 sah zwar einen Kompromiss Flexibilisierung gegen Arbeitszeitverkürzung vor, aber unter den vier Regierungen seither, darunter drei unter LSAP-Beteiligung, wurde mit einem Wirrwarr von Pan- und Pot-Gesetzen lediglich der Teil Flexibilisierung umgesetzt. Auf den Teil Arbeitszeitverkürzung warten jene Beschäftigten, die nicht unter einen Tarifvertrag mit zusätzlichen Urlaubstagen fallen, nunmehr 20 Jahre.
Vor einem Monat verabschiedete das Parlament ein Gesetz über Lebensarbeitszeitkonten im öffentlichen Dienst. Für die Arbeiter und Angestellten war ein solches Gesetz erstmals in der Regierungserklärung von CSV und LSAP vom 12. August 1999 versprochen worden. LSAP-Arbeitsminister Nicolas Schmit hatte einen ersten Entwurf 2010 im Parlament hinterlegt und später zurückgezogen, vor sechs Wochen brachte er einen neuen Entwurf ein, noch schnell vor den Wahlen.
Schon vor drei Jahren hatte der OGBL 350 Delegierte aus Syndikaten und Ausschüssen in Roeser zusammengerufen und in den Betrieben Broschüren Arbeitszeit ist Lebenszeit verteilt, um für eine sechste gesetzliche Urlaubswoche zu werben. Obwohl sie EU-Statistiken zitierte, nach denen die effektive Wochenarbeitszeit in Luxemburg die zweithöchste in der Union ist, knapp hinter Rumänien, hatte die Gewerkschaft aber von der Forderung nach einer Senkung der gesetzlichen Wochenarbeitszeit abgesehen.
Deshalb gleicht es einem Tabubruch, wenn nun mit der LSAP eine der großen Parteien „eine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, auf ein gesetzlich festgelegtes Maximum von 38 Stunden pro Woche“ in ihr Wahlprogramm schreibt. Das Wahlprogramm der LSAP verspricht obendrein: „Im Sinne einer Angleichung des Privatsektors an den öffentlichen Sektor wird der Jahresurlaub im Privatsektor während einer Fünf-Jahresperiode jährlich um einen Tag verlängert.“ Die Nachwuchsorganisation der Partei hatte die 35-Stundenwoche ins Wahlprogramm schreiben wollen, aber der Wirtschaftsminister winkte sie zurück, das könne er den Unternehmern nicht schmackhaft machen. Mit welchen Zugeständnissen er ihnen die 38-Stundenwoche schmackhaft machen würde, verriet er nicht.
Sicher geht es der LSAP darum, insbesondere im industriellen Süden noch einmal mit linken Themen ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Und ob aus ihrem Wahlversprechen mehr als ein Wahlversprechen wird, muss sich erst zeigen. Die Partei erklärte die 38-Stundenwoche jedenfalls nicht zu einer „roten Linie“, einer nicht verhandelbaren Vorbedingung, um eine Regierungskoalition einzugehen. Wenn die LSAP also während der nächsten Legislaturperiode keine 38-Stundenwoche einführen sollte, wäre das die Schuld der Wähler oder der Koalitionspartner...
Doch alleine das Wahlversprechen zwingt die anderen Parteien schon, sich zur Arbeitszeit zu positionieren. Wobei sich der schon öfter für überholt erklärte Widerspruch zwischen linken und rechten Parteien deutlich abzeichnet: Die linken Parteien sind für, die rechten gegen Arbeitszeitverkürzungen, die linken Parteien berufen sich auf die „digitale Revolution“, um die Produktivitätsgewinne aufzuteilen, die rechten, um die Arbeitszeit zu flexibilisieren.
Auf der Rechten erklärt das Wahlprogramm der CSV: „Eng verknüpft mit der Digitalisierung der Berufswelten ist die Frage der Arbeitszeit. Der Einsatz digitaler Technologien eröffnet vielen Arbeitnehmern die Möglichkeit zu flexibleren Arbeits- bzw. Anwesenheitszeiten.“ Aber „[d]as Arbeitszeitvolumen bleibt in seiner Gesamtheit unverändert“, die „Arbeitszeiten müssen ordentlich erfassbar sein und klare Definitionen der Überstunden müssen gewährleistet sein“.
Die DP verspricht: „Arbeitszeiten sollen in Zukunft individuell zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausgehandelt werden können, ohne unnötig von einem zu unflexiblen Arbeitsrecht eingeengt zu werden. Wir wollen dabei keineswegs die traditionelle 40-Stunden-Woche abschaffen, sondern denjenigen Menschen mehr Flexibilität ermöglichen, die nicht an einem 9-bis-17-Uhr-Job interessiert sind.“
Weil die Grünen seit längerem von links in Richtung Mitte gleiten, hatten sie noch 1999 die „Einführung der 35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich“ versprochen, 2004 unverbindlicher eine „generelle Arbeitszeitverkürzung“, 2009 schwörten sie ganz liberal auf die Tarifautonomie, 2013 erinnerten sie an das Gesetz über Lebensarbeitszeitkonten, und nun wollen sie unverbindlich „eine gesellschaftliche Diskussion anstoßen über eine allgemeine Verkürzung der Wochenarbeitszeit“.
Auf der Linken finden déi Lénk dagegen: „Ein wichtiges Signal wäre ein luxemburgisches Rahmengesetz, das die 35 Stunden-Woche vorsieht. Mit einem 7-Stunden-Tag könnten, sowohl Frauen als auch Männer Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren.“ Während die KPL „die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, d.h. Anpassung der Wochenarbeitszeit an die wirtschaftlichen Gegebenheiten, aber zugleich Schaffen neuer Arbeitsplätze“ fordert.
Weil die Arbeitszeit den Preis der Arbeitskraft bestimmt, Zeit Geld ist, lehnen die Unternehmer jede Senkung der Arbeitszeit ab, denn sie bedrohe die internationale Wettbewerbsfähigkeit, führe zu Engpässen in der Produktion, verlängere die Lieferfristen, fördere die Schwarzarbeit, erhöhe die Nachfrage nach Arbeitskräften und verteuere dadurch zusätzlich die Lohnkosten. Trotzdem ist es nach den Ankündigungen der LSAP nicht nur bei den Gewerkschaften recht still geblieben, so als wollten die Unternehmerverbände nicht daran glauben, dass die Partei ihr Wahlversprechen umsetzen könne oder wolle. Vielleicht vertrauen sie darauf, dass die LSAP die Wahlen verliert, dass sich kein Koalitionspartner zu einer gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung bereitfindet oder dass sowieso alles nur ein Geistzesblitz aus dem Repertoire von Referendum bis Asteroidenbergbau ist.