Wer wahlberechtigt ist und schon mal viele Wochen bis zum Termin für eine Magnetresonanztomografie warten musste, könnte geneigt sein, am 14. Oktober für die CSV zu stimmen. Denn in dem ersten Teil ihres Wahlprogramms, den sie vergangene Woche publik gemacht hat, ist auf zwei Seiten die Rede von einem „neuen Plan für den Gesundheitssektor“, und versprochen wird dort unter anderem: „Diagnostikzentren wie Scanner, Röntgen, MRT usw. sollen auch außerhalb einer Spitalstruktur ambulant angeboten werden können.“
Keine andere große Partei verspricht eine so weitreichende Liberalisierung von Leistungen, die heute auf Spitäler beschränkt sind. Nicht mal die Liberalen selber. Die DP klagt in ihrem Wahlprogramm zwar: „Eine vier- bis sechsmonatige Wartezeit für eine IRM-Untersuchung sind [sic] keine Seltenheit in Luxemburg. Patienten lassen sich sogar stationär behandeln oder weichen auf Krankenhäuser in der Grenzregion aus, um schneller zu einem Termin zu kommen.“ Doch so weit, MRT – was dasselbe ist wie IRM – auch in den Praxen niedergelassener Fachärzte für Radiologie zu erlauben, geht die DP nicht. Sie hält sich zugute, in der Regierung „dem Erwerb von vier neuen IRM-Geräten zugestimmt“ zu haben, die in den Spitälern zusätzlich installiert werden sollen, und würde „prüfen, inwieweit eine Verlängerung der täglichen Betriebsdauer der Apparate die Wartezeiten in den Krankenhäusern zusätzlich verkürzen könnte“. Mit dem Verkaufsargument „IRM“ kann demnach nur die CSV winken. Zumal der gesundheitspolitische Sprecher ihrer Kammerfraktion, Jean-Marie Halsdorf, gegenüber dem Land erklärt: „Was zum Gesundheitswesen in unserer Veröffentlichung von vergangener Woche steht, ist das, was im September ins Wahlprogramm kommt.“
Im Kern soll der „Gesundheitsplan“ der CSV eine „kohärente“ Verbindung zwischen fünf „Pfeilern“ herstellen: Prävention; medizinische Basisversorgung; Spitalplanung; ambulante Versorgung und geriatrische Versorgung. „Die verschiedenen Akteure sind nicht genug vernetzt“, sagt Jean-Marie Halsdorf, und insgesamt sei die Versorgung „zu spitallastig“. Das sei „Politik der Neunzigerjahre“. Halsdorf findet ein Gleichnis: „Die aktuelle Regierungskoalition trat 2013 mit dem Versprechen an, die Fenster weit aufzumachen und den CSV-Staat durchzulüften. Im Gesundheitsbereich ist so ein Durchlüften mehr als nötig.“
Wo die CSV recht hat, hat sie recht. Auch DP, LSAP und Grüne hielten 2013 in ihrem Koalitions-
programm fest: „La pierre angulaire de notre politique de santé publique sera une meilleure coordination entre les prestataires et les établissements et une véritable continuité entre la promotion de la santé, la prévention, les soins, la réhabilitation et l’accompagnement autour des besoins du patient, plus que jamais au centre des réflexions.“ Heute ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass es dabei keine Durchbrüche gab. Zum Beispiel wollte die Regierung die Einrichtung ärztlicher Gemeinschaftspraxen unterstützen, auch von interdisziplinären Praxen. Das sollte die Versorgung chronisch Kranker verbessern, aber auch die in weiter entfernt von Spitälern liegenden Gegenden – was in letzter Zeit im Zusammenhang mit den stark beanspruchten Krankenhaus-Notaufnahmen zur Sprache kam. Ein regelrechtes Konzept dafür aber wird Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) erst im September, also rechtzeitig vor den Wahlen, vorlegen.
Besser spät als nie vielleicht, denn zum Beenden der „Politik der Neunzigerjahre“ scheint auch die CSV noch kein Konzept zu haben, wenngleich sie mit dem Slogan „Mir hunn e Plang fir Lëtzebuerg“ in den Wahlkampf zieht. Jean-Marie Halsdorf räumt ein, „wir brauchen dafür eine Strategie“, und dass das „eine Herausforderung“ sei.
Denn das Gesundheitssystem ist komplex: Dreht man auch nur an einer Schraube, kann das zu größeren Erschütterungen führen. Bis hinein in die Krankenversicherung mit ihrem fragilen Gleichgewicht: Alle Dienstleister sind obligatorisch an die CNS gebunden, dürfen im Gegenzug bei ihr abrechnen. Die Patienten haben die freie Wahl des Dienstleisters, die Ärzte genießen Verschreibungsfreiheit. Vorherrschend sind auch in den Kliniken freiberufliche Mediziner. Das erlaubt einen problemlosen Übergang der Patienten von ambulanter zu stationärer Behandlung, da die Ärzte ihre Patienten aus dem Cabinet ins Spital „mitnehmen“ können. Ein weiterer Nebeneffekt dieses „Belegarztprinzips“ besteht darin, dass die freiberuflichen Ärzte im Grunde immer zur Verfügung stehen, wenn sie in die Klinik gerufen werden, auch in nächtlichen Bereitschaftsdiensten. Wollte man das mit angestellten Ärzten erreichen, wären viel mehr nötig und das System würde teurer. Die Bindung der Ärzte als „Dr. Immerbereit“ an die Kliniken wird unter anderem dadurch erkauft, dass ihnen dort schwere Technik und paramedizinisches Personal kostenlos zur Verfügung stehen und die CNS dafür über jährliche Klinikbudgets aufkommt.
Deshalb ist es ein Ausdruck von Ehrlichkeit, wenn der gesundheitspolitische Sprecher der CSV-Fraktion sagt, eine Strategie müsse her. Andererseits sieht es nach nicht viel aus, wenn man so tut, als habe man bereits einen „Plan“. Und manches, was die CSV verspricht oder schon in den letzten Jahren verlautbart hat, steht im Widerspruch zueinander: Jean-Marie Halsdorf setzte als Mitglied des parlamentarischen Gesundheitsausschusses schon vor zwei Jahren Lydia Mutsch mit dem Vorwurf zu, eine Neuauflage des „Spitalplans“, mit dem der Staat Klinikinfrastrukturen und das Angebot darin plant, aber auch die schwere Technik in den Spitälern, reiche nicht mehr. Nötig sei stattdessen ein „Gesundheitsplan“, auch zur „Dezentralisierung“ von Leistungen aus den Spitälern.
Doch die staatliche Spitalplanung dient auch dazu, das Angebot zu begrenzen. Erklärtermaßen anhand eines wissenschaftlich ermittelten „sanitären Bedarfs“ für die nahe Zukunft. Den auch für den ambulanten Bereich zu ermitteln, ist mangels Daten gar nicht möglich, und selbst für die Kliniken ist die regelmäßig aktualisierte Carte sanitaire nur ein ungenaues Abbild der Realität und bloß eine grobe Schätzung des künftigen Bedarfs. Ändern wird sich das erst, wenn in allen Kliniken eine einheitliche Dokumentation aller Diagnosen und aller „Prozesse“ am Patient eingeführt sein wird – was zurzeit läuft – und nachdem die Dokumentation ein paar Jahre lang Daten produziert hat. Die Dezentralisierung „planen“ zu wollen, grenzt an Hochstapelei.
Eine spannende Frage, die sich anschließt, lautet: Will die CSV, wenn sie „Plan“ sagt, den außerklinischen Bereich tatsächlich regulieren, also Beschränkungen unterwerfen? Gegenwärtig ist das nicht der Fall; es zu ändern liefe auf eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit der Ärzte hinaus und würde den 1992 gefundenen Deal mit der Ärzteschaft in Frage stellen, gegen Zusicherung von Niederlassungs- und Therapiefreiheit in eine Zwangsbindung an die Kasse einzuwilligen. Jean-Marie Halsdorf meint dazu, statt Einschränkungen zu erlassen, könne man „Anreize“ setzen, „zum Beispiel für die Niederlassung von Medizinern im ländlichen Raum“.
Was sicher zutrifft, allein: Zu dem IRM-Versprechen, das die CSV macht, muss sie sich fragen lassen, ob sie zu „planen“ beabsichtigt, was an Rönten-, Scanner- und IRM-Diagnostik künftig auch in Radiologenpraxen erlaubt sein soll, oder ob sie diese zurzeit noch ganz den Kliniken vorbehaltenen Leistungen einfach öffnen will. So richtig festlegen will Jean-Marie Halsdorf sich dazu nicht. Er verweist darauf, dass eine Gerichtsklage eines Radiologen im Raum steht, der in Absprache mit dem Immobilienunternehmer Flavio Becca ein radiologisches „Diagnosezentrum“ im Ban de Gasperich einrichten möchte (siehe d’Land, 5.1.2018). „Urteilt das Gericht, die Beschränkung von IRM auf Spitäler sei unzulässig, geht der Sektor sowieso auf. Hält es die Beschränkung für berechtigt, kann man anschließend Politik machen.“ Politisch müsse man verhindern, dass für die Spitäler die Radiologen knapp werden, wenn sie schon ambulant genug Umsatz machen können – der ungeschriebene Deal, „Belegarzt gegen kostenlose schwere Technik“ bräche dann. Und ein Konkurrenzkampf zwischen Spitälern und ambulantem Bereich um MRT-Patienten wäre ebenfalls nicht gut. Halsdorf kann sich vorstellen, dass man doch einschränkt: „IRM ist nicht gleich IRM, es gibt verschiedene Apparate und Analysen. Fällen wir eine Entscheidung, werden verschiedene Leute mit am Tisch sitzen, da kann man mehr oder weniger zugestehen.“
So gesehen, erscheint die „weitreichende Gesundheitsreform“ auf den zweiten Blick unspektakulärer als auf den ersten, und es sieht so aus, als wolle die CSV, wie in anderen Politikbereichen auch, im Gesundheitswesen einfach dort weitermachen, wo DP, LSAP und Grüne aufgehört haben. Allerdings scheinen ein paar Prämissen für sie nicht mehr so in Stein gemeißelt, wie in früheren Koalitionen: Die automatische und obligatorische Vertragsbindung der Dienstleister an die CNS sei „ein bisschen zu rigide, wir meinen, da kann an manchen Stellen Luft ran“, erklärt Jean-Marie Halsdorf. Ohne zu präzisieren, an welchen Stellen, aber würde das Conventionnement obligatoire gelockert, wären umfangreiche Änderungen am System möglich – inklusive Risiken und Nebenwirkungen. Auch die Ankündigung einer „grundlegenden Reform des Steuerungssystems“ im Gesundheitsbereich fällt im CSV-Wahlprogramm auf. Eine „Gouvernance nationale de la santé“ solle geschaffen werden. Dort würden „die vereinten Interessenvertreter, Sozialpartner, Krankenkassen und Patientenvertreter auf der Grundlage solider Gesundheitsdaten und zuverlässiger Expertenmeinungen über fällige Investitionen und effiziente Ausgabenverteilung im Gesundheitssystem entscheiden“.
Heute befindet über solche Fragen unter anderem die CNS. Steht die neue „Gouvernance“ im Wahlprogramm, um den Ärzteverband AMMD zufriedenzustellen, der Mitsprache zur öffentlichen Finanzierung des medizinischen Fortschritt verlangt und der CNS ein „Monopol“ vorwirft (siehe auch Seite 13 dieser Ausgabe)? Oder hieße die „grundlegende Reform des Steuerungssystems“ am Ende, wegzugehen von der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung durch Versicherte und Arbeitgeber, zu der der Staat noch 40 Prozent Fiskalanteil zuschießt, und sie durch eine fiskalisierte Versorgung nach dem Beveridge-Modell zu ersetzen? Oder durch eine vor allem von Staat und Versicherten finanzierte wie in Frankreich? Der Weg dahin würde eingeschlagen, falls die Arbeitgeber, wie der Unternehmerdachverband UEL sich das wünscht, aus Finanzierung und Verwaltung der Sachleistungen der CNS aussteigen.
Das seien „Detailfragen“, wehrt Jean-Marie Halsdorf ab, „da willl ich mich nicht festlegen“. Aber „diskutieren“ sollte man darüber können. Es sei nicht so, dass die CSV sich über eine „weitreichende Gesundheitsreform“ keine Gedanken gemacht hätte. Und „wir sagen nicht, dass alles Mist ist, was es heute gibt, wir sagen, mehr Kohärenz und Effizienz müssen her“. Doch allem Anschein nach kann die CSV sich zum „Gesundheitsplan“ mehr vorstellen, als in den zwölf für die Presse zusammengehefteten Seiten von vergangener Woche steht, und sie würde sich bei den Wahlen auch für mehr mandatieren lassen wollen.