Beim Ausbruch der großen Finanz- und Wirtschaftskrise Ende 2008 saßen die Vertreter Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs wie nur noch selten beisammen, um mit Milliardenbeträgen ihre Banken Dexia, Fortis und ABN Amro zu retten. Anderthalb Jahre später kam es in den Ländern, die einst Spanische Niederlande hießen und sich in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs Benelux tauften, fast zeitgleich zu Regierungskrisen. Die Auslöser, vom Afghanistan-Einsatz über den Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde bis zu den Spar-„Pisten“, waren nicht immer die tieferen Ursachen. In Luxemburg konnte die Regierungskrise einstweilen beigelegt werden. In den Niederlanden führte die Regierungskrise dagegen am Mittwoch dieser Woche zu vorgezogenen Neuwahlen. In Belgien wird am nächsten Sonntag ebenfalls vorzeitig gewählt. Streitpunkte sind überall Staatsdefizite, Steuererhöhungen, Kürzungen der Sozialleistungen, höheres Renteneintrittsalter und Einsparungen im öffentlichen Dienst.
Über der Frage, wer für die Krise zahlen soll, entstand in den Niederlanden eine Pattsituation. Die rechtsliberale Mittelschichtenpartei VVD, die an Stelle von Steuererhöhungen auf Kosten der am meisten auf den Sozialstaat angewiesenen Schichten sparen will, wurde ebenso stark wie die PvdA, die Sozialdemokraten, welche im Interesse der Bezieher niedriger Einkommen den Sozialstaat zu verteidigen versprachen. Und dann gab es noch eine stattliche Zahl Wähler, welche wieder dem deutschen Sozialdemokraten August Bebel Recht gaben, der Antisemitismus den „Sozialismus der dummen Kerls“ nannte. Da sowohl Hebräisch wie Arabisch semitische Sprachen sind, heißt die derzeitige Variante des Antisemitismus Antiislamismus, und die rechtsradikale PVV erhielt mehr Zulauf als die seit dem Krieg dominierenden Christdemokraten von Premier Jan Peter Balkenende.
In Belgien verformt die Last der Geschichte denselben Konflikt, bis er entlang geographischer Grenzen aufbricht. Der flämische Hi-Tech-Nationalismus, der sich investitionsfreundlich und weltoffen wie der riesige Hafen von Antwerpen gibt, hat als oberstes Ziel, die Transfers der belgischen Sozialversicherung vom reicheren Flandern ins ärmere Wallonien zu beenden. Die Favoriten der Meinungsumfragen sind deshalb die wallonischen Sozialisten, die für die Verteidigung des historischen Sozialstaats gegen die Entsolidarisierung stehen, und die flämischen Separatisten von der N-VA, die eine Aktualisierung des belgischen Stabilitätsprogramms ablehnen, weil es sie ihrer Meinung nach ohne Wallonien billiger zu stehen käme. Die „dummen Kerls“ bedienen die flämischen Separatisten mit dem Angebot, die französischsprachigen Landsleute zu Ausländern zu machen.
In der Jahrhunderte lang rückständigsten Provinz von allen, in Luxemburg, drücken sich solche Konflikte in Konklaven in einem Klosterrefugium aus, das inzwischen als Außenministerum dient. Dort kristallisierte sich die Meinungsverschiedenheit in der Tripartite um vorgeschlagene Einsparungen und um die automatische Indexanpassung, die prekäre Krönung des heimischen Sozialstaats. Weil die Zusammensetzung der Tripartite Pattsituationen herausfordert, verlängerte sich der Riss bis in die Regierungskoalition. Da sich die zwei Volkspartein aber noch nicht entscheiden konnten, wer den energischen Austeritätspolitiker und wer den Verteidiger des Sozialstaats spielen darf, vertagten CSV und LSAP ihre Regierungskrise bis zum Herbst. Einig waren sie sich aber, dass hierzulande die „dummen Kerls“ nicht mit Mohammedanern oder Wallonen, sondern mit Grenzpendlern bedient werden, wenn auch verschämt getarnt als Chèques services, Kindergeldkürzungen und Kilometerpauschale.