Die „offene Tripartite“, die Vizepremier Jean Asselborn (LSAP) vor zwei Wochen ausgerufen hatte, ist vorerst gescheitert. Aber sie geht beinah nahtlos über in offene Koalitionsverhandlungen.
Was nicht nur heißt, dass das Schicksal der CSV-LSAP-Regierung offen ist. Das ist es sowieso. Aber gestern Vormittag rief CSV-Präsident Michel Wolter den Bürger und Steuerzahler mit an den Verhandlungstisch. Ganz ähnlich, wie es nach der Samstags-Tripartite-Sitzung vom 9. April der OGB-L tat, dessen Präsident Jean-Claude Reding die Sparvorschläge der Regierung zur Sanierung des öffentlichen Haushalts enthüllte und so die LSAP unter enormen Bekenntnisdruck setzte. Daraufhin sei die Regierung „der Kommunikation hinterhergelaufen“, stellte Wolter fest, „und wenn man der Kommunikation hinterher läuft, hat man immer den zweiten Preis“. Weil die CSV das nicht noch einmal erleben will, unterbreitet sie allen Bürgern das Angebot eines „sozialen Index“, der auf den zweifachen Mindestlohn bezahlt würde.
An der Idee fällt auf, dass sie umgekehrt zu den Prioritäten liegt, die Premier Jean-Claude Juncker nach der letzten Tripartite-Runde nannte: Juncker hätte lieber die Entwicklung der Treibstoffpreise nicht mehr im Warenkorb berücksichtigt, bot den Gewerkschaften im Gegenzug die Einführung des kostenlosen öffentlichen Transports an, wollte aber zugleich auch die steuerliche Absetzbarkeit von Fahrtkosten nicht nur zur Hälfte abschaffen, wie die Regierung am 9. April vorgeschlagen hatte, sondern ganz. Ein Index auf den zweifachen Mindestlohn wäre für Juncker die zweitbeste Lösung gewesen. Das CSV-Nationalkomitee sah es am Mittwoch anders; „einstimmig und in Anwesenheit des Premiers“, wie Wolter betonte.
Mag sein, dass die CSV-Spitze sah, dass der Gratis-Transport, den 2004 die LSAP in ihrem Wahlprogramm versprochen hatte, einen hohen politischen Preis haben könnte. Vielleicht aber geht sie vor allem davon aus, dass der „soziale Index“ sich draußen im Land tatsächlich verkaufen lässt. Aus dem, was seit der gescheiterten Tripartite in Internet-Foren und Anrufen von Radio-Zuhörern geäußert wird, spricht einiges an Verständnis für einen derart „gedeckelten Index“. Und einiges an Unverständnis für das Nein der Gewerkschaften dazu. Gerade so, als sei zum ersten Mal verstanden worden, dass ein Index auf den zweifachen Mindestlohn nicht hieße, dass eine Index-Tranche nur denen zugute käme, die höchstens den zweifachen Mindestlohn verdienen.
Darauf scheint die CSV nun zurückzukommen: Ein solcher Index sei „sozial gerecht, hilft dem Staatshaushalt und unseren Betrieben auch“, fasste Wolter zusammen. Und rief damit die offenen Koalitionsverhandlungen aus.
Denn der „soziale Index“ richtet sich in erster Linie an die LSAP, die heute Abend in Junglinster auf ihrem Sonderparteitag über den Ausgang der Tripartite berät und deren Präsident und Fraktionsvorsitzender am Mittwoch noch meinten, bis 2012 werde über den Index nicht mehr gesprochen und der Premier in seiner Erklärung zur Lage der Nation kommenden Dienstag darüber kein Wort verlieren.
Das ist nun unwahrscheinlicher geworden, aber die CSV bietet ihrer Koalitionspartnerin nicht nur einen Index-Kompromiss an, den sie als Urheberin zu verantworten bereit ist. Sie lässt der LSAP noch eine Tür offen: Ob ein solcher Index schon vor 2011 eingeführt werden soll, bleibe „zu diskutieren“. Soll heißen: An der Indexfrage darf die Koalition nicht scheitern, und möglicherweise könnte über noch mehr diskutiert werden.
Die LSAP als Partnerin ist für die CSV noch genauso unverzichtbar wie nach den Wahlen vom letzten Jahr. Einen Kollaps der Koalition zu riskieren und sich einen anderen Partner zu suchen, ist für die CSV ebenso wenig eine Option wie Neuwahlen, aus denen die LSAP womöglich sogar gestärkt hervor ginge. Und weil das auf 700 Millionen Euro bezifferte und bis Ende 2012 angelegte Sparpaket nur die Hälfte dessen beträgt, was die Regierung im Februar als Sparziel bis 2014 an die EU-Kommission gemeldet hat, ist für die CSV die Einbindung der LSAP in die Regierung allemal das bevorzugte Szenario.
Der „soziale Index“ als Diskussionsangebot „an alle Akteure in der Tripartite, alle Parteien und alle Bürger“, wie Michel Wolter sich ausdrückte, richtet sich aber auch an die Gewerkschaften. Deren Eintracht im Nein zu allen Alternativen zum gewohnten Index-System hat bisher noch Bestand.
Aber für die Gewerkschaften ist der Index zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nur der Gral des Luxemburger Sozialstaats, der für eine Art automatisch ausgleichende Gerechtigkeit steht. Er ist auch die Erinnerung an die Tripartite von 2006, die als Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe begann und mit der Sanierung der öffentlichen Finanzen endete. Zum Schluss stimmten die Gewerkschaften zu, Index-Tranchen zu verschieben und die Familienleistungen zu desindexieren – „entgegen ihrem üblichen Dogmatismus“, wie Premier Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation kurz darauf mit „Respekt“ feststellte. Doch das Einlenken von damals wird bei den Gewerkschaften noch heute als Schwäche erinnert. Dass über die Lage der Staatsfinanzen kurz nach der Tripartite vom Frühjahr 2006 entscheidend bessere Zahlen vorlagen, die Regierung dennoch nicht bereit war, das Tripartite-Paket noch einmal aufzuschnüren, sei ein „Vertrauensbruch“ gewesen, meinte OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding am Mittwoch.
Das kategorische Nein der Gewerkschaften zu allen Veränderungen am Index hat aber auch damit zu tun, dass sich das Patronat damit in seinem Bestreben blockieren lässt, die Kosten-Kompetitivität der Betriebe zu verbessern. Was die Union des entreprises anstrebt, ist eine Art Fahrplan zur schrittweisen Senkung der Lohnkosten. Doch wenn es einen solchen Fahrplan gäbe und man nach ihm verführe, würde jede neu fällig werdende Index-Tranche eine zuletzt erreichte Lohnkostensenkung tendenziell neutralisieren.
Weil die Gewerkschaften das wissen, waren die heftigen Reaktionen auf das erste von Luc Frieden vorgelegte Sparpaket vielleicht nicht einmal in erster Linie gegen „sozial unausgewogene Maßnahmen“ gerichtet, sondern Ausdruck einer Befürchtung, die Regierung läge mit diesen Vorschlägen gefährlich nah bei Positionen des Patronats und könnte ihm auch an anderer Stelle nachgeben. Denn Vorschläge wie eine Kürzung der Kindergeld-Bezugsdauer, die Kopplung der Schulanfangszulage an die Einkommenshöhe, die Verkürzung des Elternurlaubs und die Abschaffung der Zinsbonifikation auf Hypothekenkredite hatte vergangenen Herbst die Handelskammer in ihrem Gutachten zum Staatshaushalt 2010 gemacht.
Solchen Vorstößen versuchen die Gewerkschaften, mit einer Position der Stärke zu begegnen. Aber die derzeitige Auseinandersetzung ist auch ein Testfall dafür, wieviel So-zialpolitik ein Mitgliedstaat der seit 2004 immer mehr erweiterten Europäischen Union und der Eurozone auf nationaler Ebene noch verordnen kann, wenn das Wachstum eingebrochen ist und die Staatsfinanzen unter Druck geraten sind.
Für ein Eurozonen-Mitglied „extremistisch“ nannte es Zentralbankpräsident Yves Mersch am Mittwoch, in Luxemburg den Index in gewohntem Mechanismus beibehalten zu wollten. Das war zwar eine Provokation, wie Mersch sie ab und zu mal macht. Doch an ihr war viel Wahres: In einer Binnenmarkt-EU, die Staaten umfasst, die sehr unterschiedliche Niveaus an Lohn- und Investitionskosten haben, und in der einige dieser Staaten sogar eine gemeinsame Währung haben, wird es durch die freien Kapitalflüsse Aufschwungs- und Abschwungsregionen geben. Für Luxemburg ist zumindest nicht sicher, wann es wieder aufschwingt. Wer darauf mit Kostensenkung reagiert, handelt europäisch ganz wettbewerbsrational. Und es könnte sein, dass der sozialpolitische Spielraum eines Nationalstaats wie Luxemburg mit eben solchen Maßnahmen wie einem „sozialen Index“ an seinen Grenzen ankommt.