In Luxemburg haben vier Spitäler Notdienst. Das Escher und das Ettelbrücker Krankenhaus sind ständig in Bereitschaft. In Luxemburg-Stadt wechseln CHL und Hôpital Kirchberg sich ab. Die CHL-Kinderklinik steht als die einzige ihrer Art im Land ebenfalls permanent im Notdienst.
Pro Jahr passieren 225 000 Patienten die Notdienste. Pro Tag sind es in den drei diensthabenden Spitälern jeweils zwischen 140 und 240. Sucht ein Patient einen Notdienst auf, muss er damit rechnen, dass nach seinem Eintreffen 170 bis 180 Minuten vergehen, ehe er entweder das Krankenhaus wieder verlässt oder in einem Bett liegt.
Die drei Stunden aber sind nur Durchschnittswerte. Nicht jeder Patient muss lange warten, bis ein Arzt ihn untersucht. Wer mit der Notfallambulanz eingeliefert wird, dem stehen sofort alle Krankenhaus-Ressourcen zur Verfügung. Immer wieder aber beschweren Patienten sich über zu lange Wartezeiten „an den Urgencën“. Und ab und zu erscheinen in den Zeitungen Leserbriefe, in denen berichtet wird, ein durchaus schwer Erkrankter sei falsch diagnostiziert worden.
Deshalb hatte schon vor einem Jahr die Herbstsitzung der Krankenkassen-Quadripartite festgehalten, eine Arbeitsgruppe solle das Problem analysieren und nach Lösungen suchen. Doch als am Mittwoch die Herbst-Quadripartite 2016 stattfand, konnten nur „Pisten“ präsentiert werden, wie Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) sich ausdrückte. Mitteilen konnte sie aber, dass „kein strukturelles Problem“ bestehe und die Patienten mit der Qualität der Notversorgung „zufrieden“ seien. Nur mit den Wartezeiten sei das so eine Sache – das hätten „Zufriedenheits-Umfragen“ ergeben. Wenn es ein Problem gibt, dann sei es „eher ein organisatorisches“.
Auf jeden Fall ist das Problem nicht neu. Anfang 2003 zum Beispiel widmete ihm die Abgeordnetenkammer auf Antrag der Grünen eine eigene Debatte. Doch als der Abgeordnete Jean Huss sich beim damaligen DP-Gesundheitsminister Carlo Wagner nach „Datenmaterial zu Funk-tion und Ausstattung der Notdienste“ erkundigte, wissen wollte, „welche Patienten mit welchen Beschwerden Notdienste aufsuchen, statt zum Hausarzt zu gehen“, und ob es „Qualitätskriterien“ für die Notdienste gibt, musste Wagner passen. Er sagte nur, nach seiner „Kenntnis“ handele es sich bei lediglich zehn bis 15 Prozent der Fälle um „echte Notfälle“ und bei „bis zu 20 Prozent“ um „Missbrauch“. Dass Jean Huss damals fand, bei so wenig gesicherten Informationen müsse „detailliertes Datenmaterial“ beschafft werden, leuchtete ein. Seinen Entschließungsantrag an die Regierung aber blockten die damals miteinander koalierenden CSV und DP ab (d’Land, 27.02.2003).
Seitdem wird nicht nur immer behauptet, die Notdienste würden „missbraucht“ und wegen jedem „Bobo“ aufgesucht. Viel mehr als die gelegentlichen Vorwürfe an die Patienten hat die Politik auch knapp 14 Jahre nach der Notdienst-Debatte im Parlament nicht zu sagen. Die Datenlage scheint kaum besser zu sein als Anfang 2003: Nur das Süd-Klinikum Chem habe „seine Patientenflüsse im Notdienst in allen Einzelheiten untersucht“, klagt Lydia Mutsch gegenüber dem Land.
Das ist ziemlich erstaunlich, wo doch vor einem Jahr die Quadripartite-Runde kollektiv eine Extra-Arbeitsgruppe zur Klärung aller offenen beschloss. Heute dagegen stellt die Gesundheitsministerin fest, „wir bekommen von den Spitälern nicht die Daten, die wir brauchen, deshalb haben wir am Ende nur Zufriedenheits-Umfragen gemacht“. Ein internationaler Standard besage zum Beispiel, pro „Vollzeit-Arbeitseinheit“ eines Notfallmediziners, der als Médecin-urgentiste den Patienten in der Regel als erster begegnet, seien 10 000 Patienten-Passagen im Jahr akzeptabel. „Wo wir im Vergleich dazu stehen, wissen wir nicht, wir erfahren das nicht.“ Erfreulicherweise habe der Unternehmerverband UEL vor einem Jahr eine ausländische Studie zu Notdiensten in Europa aufgetrieben, „und da schneiden wir gut ab!“. Aber damit lässt sich natürlich schlecht Politik machen.
Angesichts so vieler Unklarheiten ist es wahrscheinlich nur ein Schätzwert, dass 40 bis 50 Prozent der in den Notaufnahmen vorsprechenden Patienten sich am Ende als „U5“ herausstellen: als nach einer aus Kanada importierten Skala von 1 bis 5 diejenigen, die auch in einer Allgemeinmediziner-Praxis adäquat hätten behandelt werden können. Aber eine der Umfragen des Ministeriums ergab, dass mehr als 80 Prozent der Notaufnahme-Patienten sich direkt dorthin wenden und weder ihren Hausarzt aufsuchen noch eine Maison médicale, falls die Hausarztpraxis nicht geöffnet hat. Und 36 Prozent der Leute, das stellte diese Umfrage ebenfalls fest, wissen mit Maison médicale nichts anzufangen.
Was davon zu halten ist, ist nicht leicht zu sagen: Inwieweit etwa neu angekommene Immigranten das Spital den Referenzpunkt für medizinische Versorgung darstellt und wie lange, bleibt ebenso zu beantworten wie die Frage, wohin die 180 000 Grenzpendler tagsüber gehen; krankenversichert sind sie in Luxemburg ja. Aber Diskussionen haben schon eingesetzt und erste politische Weichen werden gestellt. Zum Beispiel heißt es seit Jahren immer wieder, Maisons médicales und Krankenhaus-Notaufnahmen könnten „zusammenarbeiten“ und ein erfahrener Krankenpfleger einen „tri commun“ der Patienten sowohl für die Notaufnahme wie für die Maison médicale vornehmen. So funktioniert das in der Maison médicale pédiatrique bei der CHL-Kinderklinik, und der OGBL erneuerte zwei Tage vor der Quadripartite seine Forderung, Maisons médicales in die Spitäler zu „integrieren“.
Doch diese Idee stößt auf Wierstand bei den Allgemeinmedizinern: „Patienten teilen“ hieße für sie Einnahmenverlust. „Wir wollen das Außerklinische für uns“, sagt Claude Schummer, Generalsekretär des Ärzteverbands AMMD und selber Generalist, unumwunden.
Die Krankenhäuser wiederum wollen durch die Maisons médicales gar nicht entlastet werden, sondern sehen ihre Probleme als „spezifisch“ an: Jeder Patient, der in einer Notaufnahme vorspricht, müsse ernst genommen werden; auch ein auf den ersten Blick leichter Fall könne sich als schwer herausstellen. Die „Patientenflüsse“ aber müssten besser gemanagt, leichte Fälle rascher durch die Urgence geschleust werden. Dazu brauchten die Kliniken, so ihr Verband am Mittwoch, jeweils einen Notfallmediziner mehr. Wie die Dinge in der Quadripartite lagen, sollen sie den auch erhalten.
Ganz einzusehen ist das nicht, wo doch die meisten Krankenhäuser offenbar nicht imstande sind, Daten über ihre Notaufnahmen zu liefern. Das ist auch der CNS aufgefallen, die zwei Wochen vor der Quadripartite einen regelrechten Protestbrief an Sozialminister und Gesundheitsministerin schickte und meinte, ehe es mehr Geld für Personal geben könne, müsse ein rigoroses „Fact-finding“ erfolgen. Maisons médicales und Klinik-Notaufnahmen hält die CNS keineswegs für zwei Welten, sondern eines „double emploi“ für verdächtig. Geklärt werden müsse auch, welche Versorgung die Polikliniken leisten, auch die in Krankenhäusern ohne Notdienst, wie in Wiltz, Niederkorn oder in der Zithaklinik. Am besten sollte damit ein externer Gutachter beauftragt werden, etwa das Luxembourg Institute of Health.
Allerdings hat die CNS dabei mehr die Geldmittel zur Anstellung neuer Pflegekräfte für die Notaufnahmen im Blick: Der Krankenhausverband hatte pro Notaufnahme zehn Vollzeit-Einheiten an Krankenpflegern mehr verlangt. Der Sozialminister genehmigte am Mittwoch erst einmal vier, ganz ohne „Fact-finding“.
Ein größeres Problem scheint die Disponibilität der Ärzte zu sein. Was nicht nur den pro Spital vielleicht fehlenden zusätzlichen Notfallmediziner betrifft, sondern Spezialisten aller möglichen Fachrichtungen, die nachts daheim oder tagsüber in ihren Praxen für die Klinik in Rufbereitschaft sind. Furore machte vor drei Jahren die Weigerung der Kinderärzte aus dem Norden und dem Süden, in Chem und CHdN weiter Bereitschaftsdienst zu leisten: Es gebe in Nord- und Südregion nicht genug Pädiater, die wenigen schöben zu oft Dienst, dabei verdiene ein freiberuflicher Kinderarzt auch in seiner Praxis genug Geld und brauche gar kein Spital. Dasselbe Problem stellt sich auch in anderen Fachrichtungen, vor allem bei Augenärzten, neuerdings auch bei Kardiologen. Aber je länger es dauert, einen Spezialisten herbeizurufen, desto länger wartet ein Pa-tient, der nicht „U5“ ist, auf eine Behandlung. Dass im Schnitt fünf Stunden und neun Minuten vergehen, bis ein Patient, der in einer Notaufnahme vorstellig wurde und am Ende hospitalisiert werden muss, sein Bett belegen kann, liegt unter anderem auch an der Verfügbarkeit der Spezialisten.
Das ist eine Frage, die einerseits das Ethos der Ärzte, andererseits ihre Lebensqualität, und drittens ihre Vergütung berührt. Wohlgemerkt: der freiberuflichen Belegärzte. Noch vor 20 Jahren war es ziemlich selbstverständlich, dass jeder von ihnen Bereitschaftsdienst an „seinem“ Spital leistete. Es galt als Gegenleistung dafür, dass das Krankenhaus dem Arzt Technik und Personal kostenlos zur Verfügung stellt. So einfach liegen die Dinge nicht mehr. Weshalb der Krankenhausverband argumentiert, weil Notdienst samt Rufbereitschaft ein öffentliches Gut sei, müssten die Ärzte ihn besser vergütet erhalten.
Darüber will der Sozialminister nächstes Jahr „diskurtieren“ lassen – nur eine Umschreibung dafür, dass das nicht einfach wird. Denn es führt mitten hinein in die Ungerechtigkeiten der bestehenden Gebührenordnung, die manche Ärzte-Fachrichtungen bevorteilt, andere schlechter stellt. Hinzu kommen enorme Unterschiede bei der Vergütung der bloßen Anwesenheit in einem Notdienst oder der Verfügbarkeit dafür: Während ein Notfall-Mediziner im Spital pro Dienst pauschal 250 Euro von der CNS gezahlt bekommt, erhalte, hieß es am Mittwoch auf der Quaripartite, ein Allgemeinmediziner pro Dienst in einer Maison médicale 900 Euro. Und einem Anästhesisten, der als Facharzt für Reanimation im Notarztwagen mitfährt, würde schon die Disponibilität dafür mit 1 700 Euro pro Dienst vergolten. Fachärzte, die keine Anästhesisten ist, erhalten für ihre Abrufbereitschaft ins Spital null Euro.
Bezeichnenderweise wollen weder das Gesundheitsministerium noch die CNS diese Beträge auf Anfrage bestätigen. Stattdessen verweisen sie auf die jeweils andere Seite, „die das wissen muss“. Doch wenn hierzulande nicht einmal Spitzenbeamte von Ministerium und Sozialversicherung wissen, welche wirtschaftlichen Anreize ihr System setzt, dann könnten das Fact-finding und die Suche nach Entscheidungen für Verbesserungen in den Notaufnahmen vielleicht noch nicht bis zur Herbst-Quadripartite 2017 abgeschlossen sein.