Wenn in Luxemburg das gesundheitliche Wohlbefinden von Menschen im Alter ab 50 Jahren eingeschränkt ist, dann lässt sich das vor allem auf „Gewichtsprobleme“ zurückführen. Zu dem Schluss kommt das Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser) in einer Veröffentlichung1 über das Survey on Health, Ageing and Retirement (Share). Fasst man Wohlbefinden auch sozio-ökonomisch auf und bezieht Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft ein, dann sind die beiden wichtigsten Risikofaktoren für den Gesundheitszustand der ab 50-Jährigen einerseits in der Staatsangehörigkeit zu suchen, die ihre Eltern hatten oder haben, sowie andererseits im Bildungsniveau der Eltern, schließt das Liser in einer weiteren Publikation2.
Die beiden Veröffentlichungen sind die ersten aus dem Liser zur Share-Studie. Share ist ein Projekt der EU-Kommission. 2002 wurde es initiiert, um als Langzeitstudie bis 2025 „Lebensgeschichten der 2002 ab 50-Jährigen zu erzählen“. Dazu wird in den Teilnehmerländern alle zwei Jahre einer möglichst unveränderten Bevölkerungs-Stichprobe ein 200 Fragen umfassender Katalog vorgelegt. Gefragt wird nicht nur nach dem Gesundheitszustand der Leute, sondern auch nach der Zusammensetzung ihres Haushalts und deren Geschichte, nach der Einkommenslage, der beruflichen Situation und weiteren Faktoren, die mit der „sozialen Inklusion“ (oder Exklusion) zusammenhängen. Ein zentrales Konsortium, das die Fragebögen aufstellt und die national erhobenen Daten prüft und validiert, soll für Vergleichbarkeit unter den teilnehmenden Ländern sorgen.
In Luxemburg kann diese Geschichtsschreibung erst mit den 2013 ab 50-Jährigen einsetzen. Das Großherzogtum nahm in jenem Jahr zum ersten Mal an Share und damit an dessen bereits fünfter „Befragungswelle“ teil. Zuvor hatten die jeweiligen Regierungen die Teilnahme an der Studie nicht finanzieren wollen (d’Land, 24.10.2014).
Seit Herbst 2015 liegen die validierten Luxemburger Share-Daten beim Liser und sind öffentlich zugänglich. Ebenfalls 2015 fand die sechste Befragungswelle statt, die für Luxemburg die zweite war und deren Daten im ersten Quartal kommenden Jahres vorliegen sollen. Am Liser wird zurzeit die Teilnahme an Welle sieben vorbereitet, die für Februar 2017 vorgesehen ist und um 2018/19 validiert sein dürfte. Die Luxemburger Stichprobe umfasst 1 610 Haushalte, das heißt so viele Personen plus ihre Partner.
Global gesehen, gaben 2013 in der ersten Erhebung hierzulande 66 Prozent der Befragten an, bei „guter“ bis „ausgezeichneter“ Gesundheit zu sein. In Frankreich, zum Vergleich, lag dieser Anteil genauso hoch, in Deutschland bei 59 Prozent, in Belgien bei 74 Prozent. Am besten schätzten damals die Schweizer mit 83 Prozent „gut“ bis „ausgezeichnet“ ihren Gesundheitszustand ein; an der Welle von 2013 hatten neben 13 EU-Staaten auch die Schweiz und Israel teilgenommen. In Estland fiel diese Zustimmungsrate mit 31 Prozent am geringsten aus.
Weil Share den Gesundheitszustand anhand von neun Kriterien misst, diese wiederum in eine Gruppe „mentale Gesundheit“ mit den Kriterien „Depression“ und „Gedächtnis“ fasst, und in eine zweite Gruppe „körperliche Gesundheit“ mit sieben Kriterien von „Langzeiterkrankungen“ über „Gewichtsprobleme“ bis hin zu „Sehvermögen“, und weil zur Erhebung jedes der neun Kriterien noch verschiedene Sub-Parameter gelten, ist es nicht ganz einfach, daraus allgemeinere Schlüsse zu ziehen. Die Liser-Ökonomin und Share-Koordinatorin Maria Noel Pi Alperin hat deshalb einen „synthetischen Indikator“ aufgestellt. Das ist ein mathematischer Ansatz, der alle neun Gesundheits-Kriterien einschließt. Er berücksichtigt, inwieweit jede befragte Person zu jedem Kriterium Beeinträchtigungen angab und wie das sich auf die Gesamtstichprobe auswirkte. Mit 24,2 Prozent sind die Auswirkungen der „Gewichtsprobleme“ insgesamt am stärksten. Wobei darunter aber sowohl ein Unter- als auch ein Übergewicht verstanden wird und nicht geschlussfolgert werden kann, fast ein Viertel der Bevölkerung ab 50 sei „schlecht dran“, weil die Leute womöglich „zu dick“ sind.
Mit dem gleichen synthetischen Ansatz untersuchte die Liser-Wissenschaftlerin auch die „Ungleichheiten im Gesundheitsrisiko“. Unterstellt werden dabei sozio-ökonomische Risiken, die innerhalb der Gesellschaft weitergegeben werden und auf welche die heute ab 50-Jährigen keinen Einfluss hatten. Die Auswahl geht auf die Armutsforschung zurück. Sie bezieht zum ersten ein, ob die Eltern der Befragten die Luxemburger Staatsbürgerschaft besitzen oder besaßen – bei 65 Prozent der Befragten trifft das auf mindestens einen Elternteil zu. Zweites Kriterium ist eine post-sekundäre Ausbildung mindestens eines Elternteils, was auf 34 Prozent der Befragten zutrifft.
Drittens erinnerten 75 Prozent der Befragten die finanzielle Lage ihrer Familie während ihrer gesamten Kindheit bis zum Alter von 15 Jahren als ständig „ziemlich gut“ oder „überdurchschnittlich“ (25 Prozent erinnerten sie also nicht so), und viertens war von 16 Prozent der Befragten ein Elternteil oder waren beide frühzeitig verstorben. Diese Parameter-Wahl ist international verbreitet. Unterstellt wird dann, dass politische Entscheider diesen sozio-ökonomischen Gegebenheiten innerhalb der Gesellschaft in unterschiedlichem Maße durch Umverteilung gegenzusteuern bereit sind. Am Ende der Betrachtung ergibt sich für Luxemburg, dass auch bei praktizierter Umverteilung die Staatsbürgerschaft und das Bildungsniveau der Eltern die für das gesundheitliche Wohlbefinden der heute ab 50-Jährigen wichtigsten exogenen Risikofaktoren darstellen.
Dieser Befund ist eher qualitativ, weil Maria Noel Pi Alperin – wie auch mit der Analyse, welches Kriterium die stärkste Auswirkung auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung hat – vor allem eine Methode einführte und testete. Detailliertere Auswertungen der Share-Daten werden folgen, und weil die Daten öffentlich sind, können auch andere Forscher damit arbeiten. Maria Noel Pi Alperins Ansatz soll in einem nächsten Schritt in ein größeres Modell münden. Anhand von Daten aus weiteren Share-Befragungen soll sich mit diesem Modell das gesundheitliche und soziale Wohlbefinden der Bevölkerung alle fünf Jahre simulieren und in die mittelfristige Zukunft projizieren lassen, um zur Politikberatung zu dienen. Dieses Projekt heißt Health Ageing and Dynamic Population und wird vom nationalen Forschungsfonds FNR unterstützt.