Seit Wochen ist es unmöglich, Nachrichten zu lesen, zu hören oder zu schauen, ohne darin einer weiteren Frau zu begegnen, die von unerwünschten Avancen über sexuelle Belästigung bis hin zur Vergewaltigung durch den sehr erfolgreichen Hollywood-Filmproduzenten Harvey Weinstein berichtet. Die Liste der jungen Frauen, die er während seiner Laufbahn zu Massagen, Duschen oder anderem genötigt hat, indem er ihren zukünftigen Karriereverlauf als Druckmittel einsetzte, ist endlos. In den sozialen Netzwerken hat dies zu einem neuen Phänomen geführt. Mit dem Hashtag #metoo berichten Frauen aus aller Welt von ihren eigenen Erfahrungen mit Männern, die ihre Macht missbrauchen, um ihnen verbal oder körperlich zu nahe zu treten, handgreiflich werden. Sprachliche Ausnahme oblige, haben französische Frauen dafür ihr eigenes Hashtag #balancetonporc erfunden und gehen teilweise so weit, ihre Angreifer öffentlich beim Namen zu nennen.
Nun stellt sich die Frage, was von dieser Flut an Berichten und Solidaritätsbekundungen zu halten ist. Ist es begrüßenswert, wenn sich die Opfer sexueller Belästigung zu Worte melden? Denn oft genug tun sie es aus Scham nicht. Sie versuchen, alleine mit ihren großen oder kleinen Traumata zurecht zu kommen, während die Täter sich in der Gewissheit wiegen, ungeschoren davonzukommen. Auch beim nächsten Mal. Hut ab also vor den Frauen, die sich nun das Reden trauen!?
Manche werden in den Hashtags #metoo und #balancetonporc die Entstehung einer solidarischen Gemeinschaft sehen. Einer länderübergreifenden Schwesternschaft, die gerade auch jüngeren und unerfahrenen Frauen, die Ziel solcher Übergriffe werden, vor Augen führt: „Ihr seid nicht allein“ und ihnen dadurch den Mut gibt, sich zu wehren. Handelt es sich etwa um eine Renaissance des Feminismus, sozusagen eines webbasierten Feminimus 2.0? Würde es dadurch gelingen, die Generation der weiblichen digital natives anzusprechen, ihnen klarzumachen, warum der Feminismus auch heute noch wichtig ist, und nichts, wofür man sich schämen muss, wäre das mehr als begrüßenswert.
Allerdings stellt sich die Frage, was dieser digitale Feminimus außerhalb vom Netz, im richtigen Leben bewirkt. Denn eigentlich ergibt sich aus dem Twitter-Phänomen kein neuer Erkenntnisstand. Schließlich wissen Frauen, dass sie belästigt und angegriffen werden, weil sie es im Alltag so erfahren. Männer wissen es eigentlich auch, weil sie es im Alltag tun. Ob die Bestätigung dieses Sachverhaltes durch ein #metoo viel daran verändert, wenn das letzte Opfer Weinsteins, das er nicht zum Schweigen bezahlt hat, ausgepackt hat und der Medienrummel abklingt, kann bezweifelt werden.
Deshalb birgt #myharveyweinstein wie jede Hashtag-Welle in den Sozialmedien das Risiko der Trivialisierung in sich. Jede sexuelle Belästigung ist immer eine zu viel. Aber wenn alle davon twittern, führt das nicht zur Banalisierung? Beziehungsweise zu einem Wettbewerb, wer wo am Schlimmsten belästigt wurde? Denn so wie die Sozialmedien gestrickt sind, „mögen“ und „teilen“ Freunde und Anhänger den Bericht der Belästigung, um ihre Abscheu auszudrücken – ein Paradox, das wahrhaftiges Kopfschütteln bewirkt, ohne Emojis und Anführungszeichen.
Ähnlich wie bei einem Attentat, nach dem die Internetgemeinschaft mit „Je suis“ reagiert und sich diejenigen, die ihre Trauer nicht öffentlich zur Schau stellen wollen, fragen müssen, ob sie dadurch weniger wert ist, müssen sich nun Frauen, die der Weltgemeinschaft im Internet lieber nicht von ihren verstörenden Erlebnissen erzählen wollen – vielleicht weil sie das trotz Hashtags zu intim finden, oder es einfach ablehnen, sich als Opfer zu sehen –, nun die gleiche Frage stellen: „Bin ich wirklich belästigt worden, wenn ich nicht darüber twittere?“ Oder anders gefragt: „Wird die Belästigung, die ich erfahren habe erst real, wenn ich davon im Netz berichte?“
Das „Je suis“-Phänomen ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Beispiel für den Abnutzungseffekt von Solidaritätswellen im Internet. Es begann mit den Attentaten auf die Redaktion der Satire-Zeitung Charlie Hebdo, hielt sich über die Attentate in Paris. Als es beim Weihnachtsmarkt in Berlin knallte, gab es schon deutlich weniger Leute, die Berliner sein wollten, die Briten haben ohnehin mehr Erfahrung mit Attentaten als viele Kontinentaleuropäer und als es diesen Sommer die katalanische Hauptstadt Barcelona traf, hisste kaum noch jemand die schwarze Flagge in seinem Profil. Von #JesuisMogadishu, war dieser Tage trotz Bombenanschlags mit über 300 Toten wenig zu sehen. Verdient ihr Tod die Betroffenheit der Netzgemeinschaft weniger als der von Europäern?
Da jede Frau weiß, dass sie öfter belästigt wird, als es Attentate mit Toten gibt, ist jetzt schon abzusehen, dass sich das #metoo wahrscheinlich ähnlich abnutzen wird wie das #Jesuis. Und bereits jetzt zeigt sich in Frankreich, dass es nicht ganz unproblematisch ist, über das anonymisierte Bekenntnis, selbst betroffen zu sein, hinaus zu twittern und Namen zu nennen, so wie die Initiatorin von #balancetonporc, die Journalistin Sandra Muller, das gefordert hat. Vielmehr stellt sich dadurch nicht nur die Frage, ob es sich bei besagtem Phänomen um eine feministische Solidaritätswelle oder eine Modeerscheinung handelt. Sondern auch die, ob die recht archaische Praxis des Prangers eventuell ein Software-Update erhalten hat. Mangels Belegen für ihre Anschuldigungen sehen sich einige der Frauen, die auf Facebook und Twitter ausgepackt haben, mit Verleumdungsklagen bedroht. Dass es für Situationen zwischen zwei Leuten in einem ausgestorbenen Flur keine Belege gibt, ist für Frauen, die sich gegen Übergriffe wehren wollen, immer ein Problem. Ob es ein Problem ist, das sie einem Richter in einem Gerichtssaal überlassen sollten oder dem Scherbengericht auf Twitter, steht auf einem anderen Blatt.
Mit diesem Blatt – auf dem der Rechtsstaat verankert ist, auf dem steht, dass kein „Schwein“ andere belästigen darf, auf dem aber auch steht, dass das Schwein, das es trotzdem tut, Recht auf einen fairen Prozess hat – nähern wir uns der Wirklichkeit in Luxemburg. Dort nahmen Frauen schon vor Jahren ihren Mut zusammen, um einen Mann anzuzeigen, der regelmäßig im Bus mit einer versteckten Kamera unter den Röcken von Frauen filmte. Obwohl die Polizei auf seinem Rechner „hunderte dieser Filme“ fand, darf der Mann dies weiter ungestört tun, denn, wie eine Sprecherin der Justiz beispielsweise dem Luxemburger Wort Anfang September erklärte, stellt das heimliche Filmen des Intimbereichs von Frauen in einem Bus nach Luxemburger Rechtslage paradoxerweise weder einen Angriff auf die Schamhaftigkeit noch eine Verletzung der Privatsphäre dar, weil ein Bus ein öffentlicher, kein abgeschlossener Raum ist. Diese angebliche Gesetzeslücke, die freien Zutritt zu jeder Vagina im öffentlichen Transport erlaubt, ist eine unsägliche Schweinerei, die Frauen geradezu in die Rolle ohnmächtiger Opfer zwingt, weil der Mann anscheinend nicht gerichtlich belangt werden kann. Sie hat aber in Luxemburg kaum eine Feministin auf den Plan gerufen, die den Justizminister vor seine Verantwortung gestellt hätte, das Gesetz nachzubessern.
Vielleicht ist nichts anderes zu erwarten in einem Land, in dem bekennende Feministinnen Kolumnen für Medienhäuser schreiben, die Frauen regelmäßig als Sexobjekte darstellen und den Tod von nicht nur stadtbekannten, sondern rechtskräftig verurteilten Zuhältern mit einer Laudatio auf „den König der Nacht“ begehen, so als ob Jos Hoffmann einfach gerne ein bisschen viel gefeiert hätte (http://www.tageblatt.lu/nachrichten/mit-krokodilleder-durch-die-nacht-18164840/). Das aktuelle Revue-Cover zeigt Ausschnitt und Bauch der schwangeren Tennisspielerin Mandy Minella, ihre Haare flattern in künstlichem Wind. Als die Schauspielerin Demi Moore sich 1991 (!) nackt und schwanger von Annie Leibowitz für ein Vanity Fair-Titelbild fotografieren ließ, war dies schon nicht unumstritten, aber es ließ sich argumentieren, dass es sich um ein Kunstwerk handelte, um schwangeren Frauen zu zeigen, dass sie sich nicht weiter verstecken müssen. Im Jahr 2017 ist ein solches Titelbild nicht viel mehr als dumme Fleischbeschau zur Steigerung der Verkaufszahlen.
Das Tageblatt illustrierte diese Woche den Ausgang der Wahlen in Österreich mit den aus einem roten Minirock herausragenden, verführerisch angewinkelten, schlanken, langen und in hohen Stöckelschuhen steckenden Beinen einer Frau. Kopf und Torso der Frau waren abgeschnitten. Als Feministin kann man zu diesem Geniestreich nur von Herzen gratulieren. Da gibt es einen Rechtsruck in den Wahlkabinen; eine rechtsradikale Partei, gegen die die EU-Kommission vor Jahren noch Sanktionen verhängte, riskiert Regierungsverantwortung zu bekommen, ihre Militanten schlagen einen asiatischen Journalisten zusammen, und auf die Frage, wie man seinen Lesern das visuell vermitteln kann, lautet die Antwort: „Minirock, nackte Frauenbeine“. Der Zusammenhang mit der „Suche nach dem rechten Bündnis“: unklar. #Dagegenbinichauch