Heute vor einer Woche, genau einen Tag und 150 Jahre nach der Erstveröffentlichung des ersten Kapital-Bandes von Karl Marx, organisierte der Verband deutscher Prädikatswinzer seine 17. Rieslingversteigerung. Die Ironie der Geschichte will, dass Marx eine seiner frühen Arbeiten der Misere der deutschen Moselwinzer widmete und dass manche ihrer Weine heute locker mehrere tausend Euro wert sind. Neulich waren wir bei Egon Müller dem Vierten, dem Papst der Moselwinzer zu Gast, um über den König der Moselweine, den Riesling, zu disputieren und so ganz nebenbei den letzten Jahrgang zu verkosten.
Der Riesling hat ein Identitätsproblem. So wie dieser Kabinett 2016, den wir an jenem sonnigen Frühlingsnachmittag bei Egon Müller nicht verkostet, sondern getrunken haben. Im Scharzhof gewachsen, ist dieser Saarwein eigentlich ein Moselwein. Manchmal ist er trocken ausgebaut, meistens ist er feinherb und hie und da gibt er sich edelsüß die Ehre. Zwei Seelen wohnen ach, pardon, Gott sei Dank, in seiner Brust, eine süße und eine saure, die sich im Glas und in der Flasche spannende Zweikämpfe liefern. Der Riesling ist der Fregoli unter den Weißweinen, er ändert seine Erscheinung je nach Winzer und Terroir genauso oft und schnell wie der geniale Verwandlungskünstler Anfang des vorigen Jahrhunderts. Dabei überlässt er den Titel Kaiser des Weißweins gerne seinem Nebenbuhler Chardonnay, der seine Größe nur dem Terroir verdankt, so wie der Kaiser seine Macht aus dem Volke schöpft. Wer sagt schon vom Montrachet, dass er ein Chardonnay ist?
Ganz anders beim Riesling. Er verleugnet nie seine Persönlichkeit, aber er setzt sie ganz in den Dienst seines Terroirs, und nirgends ist dieses größer als in den Steinlagen der Saar, Mosel, Ruwer und Nahe. Egon Müller, der vierte seines Namens, der sechste seiner Linie, baut exklusiv exklusiven Riesling in seinen Weinbergen aus. Seine Kredenzen gelten als die Weltbesten und erzielten auch schon mal 15 000 Euro pro Flasche auf der VDP-Versteigerung in Trier. Er produziert keine trockenen Weine, auch wenn der Markt heuer danach fragt. Diese Häresie überlässt er gerne seinen Kollegen, auch denjenigen aus Luxemburg, deren Muschelkalkböden sich besser für diese Art von Ausbau eignen.
Schiefer, der ganze Schiefer, nichts als Schiefer lautet das Credo seiner Saarlagen. Dabei ist Egon Müller beileibe kein „Terroirist“, kein Ayatollah des biologischen oder gar des biodynamischen Weinbaus. Das Terroir, dieses Zusammenspiel von Bodenbeschaffenheit, Klima, Lagenhang, Tradition … und Glaube, manchmal Aberglaube, hat bei einem großen Wein wohl das letzte Wort, aber um dieses Wort zu übersetzten und zu interpretieren bedarf es der Rebe und des Winzers. Die Aufgabe des Letzteren ist mit der des Übersetzers, oder besser noch, des Psychoanalytikers zu vergleichen. Seine Größe liegt in seiner Bescheidenheit : Um die Wahrheit des Patienten und des Weines zu revelieren, muss er sein Genie in den Dienst der Natur stellen. „Ich bin Erbe dieses Schatzes“, sagt bescheiden der Winzer, der keinen Winemaker beschäftigt, wie zum Beispiel viele seiner Kollegen aus dem Bordeaux. Name und Vorname sind Omen und so ererbt und vererbt Egon Müller der Vierte seinen Weinberg und auch seine Flaschen, die schon mal viele Jahrzehnte nicht überleben, sondern leben. So wie dieser Kabinett 1995, den der Meister jetzt aus dem Keller holt und dessen Süße sich nach all den Jahren etwas hinter der Säure und den Riesling-typischen Petroleumnoten versteckt. Und genau dieses Versteck- und Spannungsspiel zwischen Säure und Süße, zwischen Frucht und Petroleum machen die unbeschreibliche Leichtigkeit des Rieslings aus. Eine Spätlese aus dem großen klassischen Jahrgang 1999 liefert ein weiteres beeindruckendes Zeugnis von dieser Tension, die weit mehr Tanz als Kampf ist.
2016 war ein klassischer Jahrgang, dessen Mostgewichte keine großen edelsüßen Weine im Scharzhof hervorbrachten. In der benachbarten Wiltinger Braunen Kupp aber, die Egon Müller unter dem Namen „Le Gallais“ bewirtschaftet und deren Hang etwas südlicher neigt, kreierte der Meister eine Auslese, deren Süße unsere Vorderzunge nie übermüdete und stattdessen unsere Speicheldrüsen bis zum Genusse streichelten.
Und so wie Säure und Süße, primäre und tertiäre Aromen, Alkohol und Schmelze sich necken und zanken, so zankt und neckt der Winzer sich mit seinem Weinberg. „Und wenn auch die Wahrheit des Terroirs in den feinherben Weinen liegt, so macht es mir doch Spaß hie und da die Natur zu überlisten und eine Trockenbeerenauslese zu kreieren“, avouiert Egon Müller uns nach der siebten Flasche, eben einer Beerenauslese 2005 aus dem Scharzhofberg. „Und dann ist das“, fügt er verschmitzt hinzu, „auch schon mal mehr ein Egon-Müller-Wein als ein Scharzhofberger.“
Egon Müller vertreibt seine Weine nicht selbst. Er organisiert auch keine Verkostungen und Führungen in seinem Haus. Aber er stellt schon mal gerne seinen Gästen seine Weine vor, so wie ein Maler seine Bilder in seinem Atelier zeigt. Und dann steht auch kein Spucknapf auf dem Tisch, dann wird auch keine neue Flasche geöffnet, ehe die vorherige ausgetrunken ist und dann kommt es schon mal vor dass man sich fühlt wie bei Platos Bankett. Acht bis zehn Prozent Alkohol sind nicht viel, sie summieren sich aber nach einigen Flaschen zu einer süßen intellektuellen und genussvollen Trance, in der es sich wunderbar philosophieren lässt.
Die alten Griechen, die es ja wissen mussten, philosophierten nie ohne Wein, und Aristoteles, in seinem berühmten Problem XXX, verglich ihn gar mit der Melancholie. Ja, Egon Müllers Rieslinge sind melancholische Tropfen. Denn so wie die Melancholie die Trauer versüßt, veredelt im Riesling die Süßigkeit des Weins die Bitterkeit des Seins.