Obwohl die diesjährigen Filmfestspiele in Cannes aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt wurden, laufen dennoch vereinzelt Filme in den Kinos, die bereits im Vorfeld für das prestigeträchtige Festival ausgewählt wurden. So auch Drunk, der neue Film des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg: Vier befreundete Lehrer, Martin (Mads Mikkelsen), Tommy (Thomas Bo Larsen), Nicolaj (Magnus Millang) und Peter (Lars Ranthe) stecken in der Midlife Crisis und wollen ihre Lebenssituation verbessern, indem sie ein Selbstexperiment wagen: Sie wollen einen konstant hohen Alkoholpegel wahren, um ihren Alltag besser zu meistern, dabei aber darauf achten, nie an den Rand der Lebensbedrohung zu geraten. Dass ausgerechnet dieser Film von dem Thomas Vinterberg stammt, mag auf den ersten Blick verwundern, ist er doch neben Lars von Trier einer der prominenteren Vertreter der Dogma95-Bewegung, die besonders auf filmische Unmittelbarkeit und einen starken Realitätseindruck zielte. So findet man in Drunk denn auch einiges an der Radikalität nicht mehr, die Vinterbergs frühe Regiearbeiten ausmachten. Für seinen 1998 erschienenen Festen wurde er in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet und machte sich so auch international einen Namen. Drunk hingegen erfüllt, wie auch Vinerbergs rezentere Filme, fast keine der Forderungen, die die kleine Gruppe von Filmemachern 1995 in ihrem Manifest postulierte. Insbesondere wog da der Umstand, der Oberflächlichkeit und dem Genrefilm eine Absage zu erteilen. Drunk bewegt sich jedoch augenscheinlich an der Schnittstelle zwischen Komödie und Drama und ist auch im Allgemeinen sehr konventionell erzählt. Dies sei nicht als Einwand gegen Vinterbergs neuen Film zu verstehen, die Gegenüberstellung zeigt lediglich einen Entwicklungsprozess im filmischen Schaffen des mittlerweile 51-jährigen Regisseurs.
Drunk gibt so trotz realistischen Ansatzes nicht etwa eine nüchterne Gesellschaftsschilderung der dänischen Mittelschicht, sondern ist vielmehr als ein Spieler-Abenteuer angelegt, in dem gepokert wird, wie sonst nur am Spieltisch, und die noch so geringe Hoffnung auf die bessere Lebenssituation, der Wunsch des Ausbruches aus dem Geregelten, bestimmen dabei die Einsätze. Die Faszination für dieses Spiel prägt den Film zu Beginn, in seinem zweiten Teil überwiegt dann vor allem das Interesse an den Bemühungen der vier Freunde, den Wiedereintritt ins normale Leben anzutreten. Freilich ist dieser Film als breiter crowd pleaser angelegt, er folgt den Prinzipien des filmischen feel-good-Phänomens, indem er ernste Themen wie die Alkoholsucht oder die Existenzkrise zwar eindringlich schildert, aber mit einem heiteren Gefühl von Optimismus unterfüttert, um so auch im Bereich des Arthouse-Kinos ein möglichst breites Publikum zu finden. Nie darf es zu dramatisch werden, den Ernst fängt Vinterberg gerne mit Heiterkeit auf, oszilliert so gekonnt zwischen den Gefühlslagen. Dieser Effekt in der Filmrezeption wird bedient durch eine besondere Achtung der Szenenabfolge und einen sorgfältig angelegten Montagerhythmus, vor allem aber durch ein gut eingespieltes Schauspielensemble. Drunk ist so inszeniert, dass sein Publikum nie der Zuversicht beraubt wird, dass alles auf die große versöhnliche Geste hinauslaufen werde. Dass dieser Film als Anklage der sittsamen Ordnung über weite Strecken derart zu fesseln vermag, verdankt er seinem Hauptdarsteller, denn Vinterberg weiß um die Interpretationsstärke Mads Mikkelsens – beide arbeiteten bereits 2012 gemeinsam für den Film Jagd. Vinterberg versteht es, den gelegentlichen Ausbruch von Ekstase oder Frustration aber auch den Charme, die Menschlichkeit und die Sensibilität im Spiel von Mads Mikkelsen zu zeigen. Drunk lebt somit mehr von der Charakterisierung der Personen als von der Konstruktion des Plots – ins Arbeitermilieu im Süden Luxemburgs verlegt, böte der Stoff für Andy Bausch eine Fundgrube.