In Anbetracht der noch immer herrschenden Wirtschafts- und Finanzkrise klang die Ankündigung von Fernando Pessoas Ein anarchistischer Bankier als szenische Lesung im Kasemattentheater wie die Fortsetzung eines chronischen Scheiterns. Es drohte die Gefahr einer plumpen, stammtischreifen Scheinanalyse der ethisch verwerflich anmutenden Arbeit jener gierigen Spekulanten, die im Laufe der letzten Jahre zur Zielscheibe der vollkommen mediatisierten Öffentlichkeit geraten sind. „Die Banken“ haben ohne Zweifel schwere Schuld auf sich geladen. Die systematisierte Verneblung finanzieller Transaktionen hat dazu geführt, dass man so wenig von einem Privatanleger die totale Übersicht über sein gekauftes Produkt verlangen kann, wie man vom Hausbesitzer erwarten darf, dass er jeden kernphysikalischen Vorgang im Inneren eines Atomkraftwerks versteht, nur weil er daraus seinen Strom bezieht. Und trotzdem setzt die Kunst ihre Kritik chronisch zu oft und zu einfach im Bereich des Generalverrisses an, was nicht nur jenen Jahren keine Rechnung trägt, in denen das Finanzwesen zu unserem Wohlstand beitrug (und noch immer beiträgt), sondern zudem eben diese Branche zum mystischen Moloch sublimiert.
Eine weitere Ackermann-Hetze also? Keineswegs! Unter der Regie von Wolfgang Hagemann liefern sich Germain Wagner und Land-Wirtschaftsredakteurin Michèle Sinner mit der Lesung des Gesprächs zwischen einem Bankier und einer Wirtschaftsjournalistin genau das, was der portugiesische Dichter Fernando Pessoa im Jahre 1920 beabsichtigte: Ein anarchistischer Bankier ist nicht der logische Beweis dafür, dass ein Bankier zugleich ein Anarchist sein kann. Pessoa möchte dem Leser vorhalten, wie man im Spiel mit der deduktiven Logik die scheinbare Antithetik zur vertrackten Einheit verdreht. Stellenweise sind die logischen Gedankengänge derart durchlöchert, dass sie für die komischen Momente im Zusammenspiel der beiden Leser sorgen.
Teilweise aber wirken die Reflexionen über „Tyrannei“, „Freiheit“, „Macht des Geldes“ und „Gesellschaftsfiktionen“ überraschend schlüssig. Doch Pessoa spielt des Teufels Anwalt. Erst in der Auseinandersetzung mit der terminologischen Definitionswillkür einiger Schlüsselbegriffe (Anarchie verstanden als Freiheit von Gesellschaftsfiktionen!) kann sich jeder Zuhörer beruhigt zurücklehnen und dem ironischen Tenor dieser sprachlich wie reflektorisch genialen Diskurssatire lauschen. Der Banker möchte Anarchie, setzt diese gleich mit allgemeiner Freiheit, entdeckt Keime der Tyrannei inmitten jener Zellen, die für diese Freiheit organisiert kämpfen wollen, und zieht den Schluss, jedes Individuum müsse für seine eigene Freiheit kämpfen. Er seinerseits habe dieser eigenwilligen Maxime entsprochen, indem er die Tyrannei des Geldes durch ach so selbstloses Erwerben desselben bekämpft habe. Kurz: Freiheitliche Individualanarchie mit Hilfe unbegrenzten Egoismus.
Das ständige ironisch-süffisante Lächeln im Gesicht Germain Wagners und seine späterhin impulsiven Schübe gehen dabei einher mit den Schritt für Schritt verbogener und abstruser wirkenden Überlegungen seiner Figur. Die lässige, stellenweise an der Bar dargestellte Gestik und die an Entschlossenheit strotzende Rhetorik stehen dabei in krassem Gegensatz zur zusehends schwankenden, dem drohenden Einsturz zusteuernden Konstruktion des soziologischen Glaubensbekenntnisses. Mit ihrer wohlwollenden Nachsicht beraubt Michèle Sinner ihr Gegenüber seiner letzten Autorität.
Gemütlich und bequem sitzt das Publikum an Tischen, bei Bier, Wein und Knabberzeug. Gemütlich und bequem wäre auch ein weiterer Ackermann-Verriss gewesen. Unbequem und anspruchsvoll ist jedoch Fernando Pessoas Text, weniger aufgrund seiner Aussage, als vielmehr ob seiner verschwurbelten, manipulativen Struktur: Ein Mehrwert im Gegensatz zum Wust besserwisserischer Hobbyökonomie.