Dramatiker Falk Richters Internet ist sinnlich. Kisses werden geposted, es wird sich umarmt, jeder User trifft sich mit Friends und tagged sie auf Fotos in seinem Profile. Es wird auf Youporn im Amateur-Bereich in jeder Stellung im Livestream gefickt, onaniert und der eigene Heimporno upgeloaded. Wer nicht Teil dieser Community ist, verliert seine Identity. Ziel ist das Gefühl, „das echte“. Menschen erbrechen sich verbal, hinterlassen digitale Scherbenhaufen, die sie in der realen Welt nicht zu Stande bringen. Denn im Internet ist jeder Kult, darf jeder alles tun, sich vertun. Wenn Pornografie die Darstellung der Unzucht bedeutet, dann wird das Internet in Anne Simons aktualisierter – Entschuldigung! –, upgedateter Vorlage nach Falk Richter als Pornografie des Ichs entlarvt. Ob Genitalien, nervtötendes Intim-Geschwafel oder der letzte Gang zum Klo, alles wird gepostet, getwittert, geblogged. Diese Veräußerlichung steht im Verdacht, nicht nur auf religiöser Ebene, sondern insbesondere entwicklungspsychologisch unzüchtig zu sein.
Kult. Eine Trilogie (1996), unter der Regie von Anne Simon, läuft wird derzeit im Kasemattentheater. Marc Limpach hat die Dramaturgie übernommen, und unter Mitwirkung von Anouk Schiltz hat das Trio eine Kulisse gestaltet, deren Symbolik sich dem Zuschauer erst im dramaturgischen Zusammenhang erschließt. Nicht nur die gewohnte Bühne, der gesamte Raum des Kasemattentheaters ist eingetaucht in ein tiefes Schwarz, aus dem sich ein kräftiges, schrilles Grün hervortut und eine surreale Atmosphäre schafft. In zwei beweglichen Metallzellen, dreiseitig offen, zur vierten durch passierbare Plastikstreifen miteinander verbunden, offenbaren sich Nora (Nora Koenig), Tammy (Tammy Reichling) und Nickel (Nickel Bösenberg) als Gamer, als Helden ihrer eigenen Bettgeschichten und zuweilen als Suchende. Sie sehnen sich nach jener Echtheit, die ihnen in der Realität abhanden gekommen ist: „Ist das jetzt die Stelle mit dem echten Gefühl?“
Bereits aus der Synopsis des Programmhefts geht hervor, dass die drei Teile des Stücks kaum als autonome Einheiten fungieren, sondern zusammenhängende Abschnitte einer Gesamtheit bilden. „Video-Blog“, „Profiling“ und „Die ultimative Show“ bilden ein Sammelsurium an gewollt banalen, witzigen oder perversen Netzergüssen. Diese wiederum verdanken ihre Struktur zwei dramaturgischen Einschnitten: Am Ende wagt es Nora, ihr Facebook-Konto zu löschen und verabschiedet sich so von der virtuellen Welt. Sie muss ihr Social Network nun in der Reality weben. Regelmäßig werden Räume gewechselt, die beiden Zellen mehrmals verschoben. Auch müssen sich Zuschauer von ihren grünen Kissen und schwarzen Stühlen heben und ihre Perspektive wechseln. Dadurch wirkt das Zentrum nicht mehr wie eine Bühne, sondern wie ein digitaler Internet-Raum, in dem der Zuschauer Voyeur, User und sogar Teilnehmer an einer Facebook-Kissenschlacht ist.
Simons Spiel mit dem Verhältnis von Realität und virtuellem Raum ist atmosphärisch verdichtet. Die groteske Darstellung der Bewusstseinsebenen wird sogar um eine Dimension erweitert: Nicht nur räumlich wird neben dem Trio der Zuschauer in die Netz-Community eingebunden. Auch zeitlich gerät Gewohntes ins Wanken, steht das Publikum auf der Grenzlinie zwischen Illusion und Realität. Mit welchem Gestus endet jede Theater-Vorstellung? Ja, mit Applaus. Was genießt der Zuschauer anschließend? Jawohl, den Plausch an der Bar. In Kult werden die anschließenden Vorhänge an die Wand hinter der Theke projiziert, während das Publikum nicht weiß, ob es diesen Megapixeln applaudieren soll. Von den Schauspielern aus Fleisch und Blut ist weit und breit nichts zu sehen. War’s das oder kommt noch was? Es herrscht die totale Verwirrung. Man bestätigt mir, bereits anlässlich der Premiere seien lebende Fragezeichen durch den Raum geirrt, ihrer Funktion als Teil der Illusion oder als Zuschauer ungewiss. Was die Akteure im Theater nicht können, vermag das Publikum auch nicht im Hier und Jetzt: Das Unterscheiden zwischen Virtualität und Realität. Hier wird die Psyche des Zuschauers zum Objekt des Voyeurs.
Mag sein, dass Internet-Laien Verständnisprobleme haben werden. Wer sich aber im grünen Digi-Staub der virtuellen Welt zurecht findet, dem mag hier so mancher Spiegel vorgehalten werden. Das Kasemattentheater hat einmal mehr sein Gespür für Themen bewiesen. So manche Formulierung und Darstellung wirkt drastisch und schockierend, doch wer sich dieser rohen, tabufreien Virtualität verweigern möchte, der soll halt leben, altmodisch, langweilig, ehrlich.