Manche Bücher erzählen Geschichten, die man nicht oft hört. Der vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegebene Band Mutige Entdecker bleiben: Jüdische und muslimische Senioren im Dialog ist eines dieser Bücher. Seit Mai 2019 organisiert der Zentralrat der Juden bundesweit jüdisch-muslimische Dialogformate. Das Projekt, das den Namen Schalom aleikum trägt, hat als Ziel die Förderung der Prävention von Extremismus, Antisemitismus und auch der Feindlichkeit gegenüber Muslimen. Wie der Geschäftsleiter des Zentralrats Daniel Botman und der Projektleiter Dimitrij Belkin in ihrem Vorwort betonen, gibt es verschiedene Formen des Antisemitismus in den muslimischen Gemeinschaften Deutschlands. Doch gibt es auch generell eine Vielfalt an Diskriminierungsformen in der Bundesrepublik: „Viele Menschen werden aus unterschiedlichen Gründen benachteiligt oder beleidigt. Die Geschichten, die Dramen und auch die Diskriminierungen, denen Juden und Muslime ausgesetzt werden, sind vielfältig. Unterschiedliche Diskriminierungen gleichzusetzen oder über einen Kamm zu scheren, missachtet die Komplexität der Ursachen und Phänomene. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus sind gleichermaßen zu missbilligen und zu bekämpfen.“ Daher gilt die Notwendigkeit dieser Initiative um Juden und Muslime miteinander ins Gespräch zu bringen. Obwohl die Teilnehmer nicht vorurteilsfrei in die Veranstaltungen hineingingen, ist das Konzept aufgegangen. Wie die 1991 aus Lettland nach Deutschland eingewanderte Inessa Goldmann betont: „Der direkte Austausch bringt unglaublich viel.“
Die Veranstaltung, die im Oktober 2019 jüdische und muslimische Senioren zusammenbrachte, wird mit diesem ersten, reich illustrierten Band der Schalom Aleikum-Reihe dokumentiert. Anhand von zehn Interviews und Porträts geben die Herausgeber Menschen, die man nur selten hört, die Gelegenheit, über ihre sehr unterschiedlichen Erfahrungen in Deutschland zu erzählen. Besonders interessant sind hier die Einstellungen der Senioren, was die Frage des interreligiösen und interkulturellen Dialogs betrifft. Zum Beispiel erklärt Zeenat Hameed, die 1986 mit ihrem Mann und ihren Kindern aufgrund religiöser Verfolgung von Pakistan nach Deutschland flüchtete, dass für ihre Gemeinde „Dialog eine Maxime ist.“ Sie gehört der in vielen Teilen der islamischen Welt verfolgten Ahmadiyya-Gemeinschaft an. Die gemeinsame Erfahrung der Unterdrückung und Verfolgung schafft Empathie. So erzählt der 1975 aus Israel nach Deutschland eingewanderte Fotograf Rafael Herlich, dass die Ahmadiyya Gemeinschaft ihn vergangenes Jahr nach dem Jom-Kippur-Anschlag in Halle kontaktierte: „Was können wir tun? Wie können wir zusammenhalten?“ Wie Herlich weiter erzählt, kamen Mitglieder dieser muslimischen Gemeinschaft zur Frankfurter Synagoge und beteten zusammen mit der jüdische Gemeinde für den Frieden.
Doch nicht alle Teilnehmer teilen eine religionsbezogene Auffassung des Dialogs. Der ehemalige Bergmann im Steinkohlen-Bergwerk Zeche Heinrich-Robert in Hamm, Nail Ertaş, betont, dass die Kameradschaft unter Bergleuten einmalig war: „Bei uns gab es keine Türken, keine Polen, Marokkaner, Griechen oder Deutsche – bei uns gab es nur den ‚Kumpel‘. Wir Bergleute halten zusammen und müssen das auch, denn der Job ist zu gefährlich. Wir sind alle für einander da, denn wir möchten, dass die anderen auch für uns da sind.“ Das Klassenbewusstsein als Grundstein des Dialogs. In einer Zeit, in der rechts- und linkspopulistische Koryphäen immer wieder die kosmopolitische Eliten als Gegenspieler eines angeblich homogenen „Volks“ verurteilen, zeigt das Buch dann auch, dass das „Volk“ – eben diese „kleinen Leute“, die Bergarbeiter, Reinigungskräfte und andere – genauso kosmopolitisch sind. Und es immer waren: In seinem Beitrag mit dem Titel Minority Report: Juden und Muslime in Deutschland erinnert Jannis Paniagiotidis vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück die Leser daran, dass nach der Shoah Juden in den zwei Deutschlanden weitergelebt haben. Auch gab es schon eine muslimische Präsenz vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, lange vor der Ankunft der ersten sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei. Wie Firouz Vladi, dessen Vater aus dem iranischen Aserbaidschan 1931 nach Deutschland einwanderte, betont, gibt es noch viel Nachholbedarf, was die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte des Lands angeht. Dieses Buch ist zweifellos ein wichtiger Baustein.