Geländewagen und Satellitentelefone: Nicht nur Söldner und Missionare fallen in wehrlose Gegenden ein, sondern auch Schwärme von Helfern. Nichtregierungsorganisationen (NGO) haben sich von Randfiguren zu gewichtigen Mitspielern der Weltpolitik gemausert. Ein großer Teil der Not- und Entwicklungshilfe läuft nun über nichtstaatliche Einrichtungen. Längst verteilen sie nicht mehr nur Reissäcke: NGO kümmern sich auch um vertrackte Themen wie Bildung, Gleichstellung, Vergangenheitsbewältigung und Befriedung, ja um die „Transformation“ ganzer Gesellschaften.
Gab es lange fast nur das Internationale Rote Kreuz, wird heute die Zahl der mehr oder weniger privaten, überwiegend vom „Westen“ finanzierten NGO auf weltweit fast 60 000 geschätzt – die der staatlichen internationalen Organisationen nur auf rund 8 000. Manche NGO, etwa die Stiftungen von Bill Gates oder George Soros, haben mehr Geld und Macht als Kleinstaaten. Die evangelikale World Vision, die größte NGO, hat rund 40 000 Angestellte in 100 Ländern und ein Budget von mehr als zwei Milliarden US-Dollar.
Mit der Bedeutung wächst auch die Kritik: Sind NGO wirklich so wohltätig und neutral wie sie behaupten? In Deutschland, einem Haupt-Geberland, ist die Begeisterung abgekühlt, seit NGO nicht mehr nur Urwaldzerstörer bekämpfen, sondern auch heimische Autobauer. Jetzt ist mit etwas Verspätung eine US-Studie zur „dunklen Seite der internationalen Friedensarbeit“ auf Deutsch erschienen: Sie bescheinigt NGO, oft „so viel Schaden wie Nutzen“ anzurichten und „nicht hilfreich, sondern Teil des Problems“ zu sein.
Patrice McMahon, Politik-Professorin an der Universität von Nebraska, hat die Rolle von NGO bei der „liberalen Friedenskonsolidierung“ auf dem Balkan untersucht. Dazu hat sie in Bosnien und im Kosovo rund 120 Vertreter von staatlichen Institutionen, ausländischen und lokalen NGO interviewt. Außerdem hat sie Berichte ausgewertet, die sonst dem breiten Publikum kaum aufgedrängt werden. Nach einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam zum Beispiel sind von der gesamten humanitären Hilfe der Jahre 2007 bis 2013 weniger als zwei Prozent (!) bei einheimischen Empfängern in den Zielländern angekommen.
Nach den Balkan-Kriegen war „Zivilgesellschaft“ das Zauberwort. Die westlichen Regierungen wollten dafür etwas tun, sich aber nicht in ethnische Konflikte verstricken. Da sei das Versprechen, dass NGO flexibler, effizienter und sparsamer als Beamte seien, gerade recht gekommen, erläutert McMahon. Außerdem seien die NGO „irgendwie in den Ruf geraten, die legitime, rechtmäßige Stimme ‚des Volkes‘ zu sein“, obwohl sie „von den Menschen, für die sie angeblich arbeiten, weder gewählt, noch ihnen verpflichtet sind“.
In Bosnien wurden mindestens 17 Staaten, 18 Uno- und 27 andere internationale Organisationen sowie 200 internationale NGO aktiv – meist eher gegen- als miteinander. Von 1995 bis 2000 flossen schätzungsweise 24 Milliarden US-Dollar Hilfsgelder, davon rund sechs Milliarden für Demokratisierung und Zivilgesellschaft. In der Folge explodierte die Zahl der „einheimischen“, meist ganz vom Ausland finanzierten NGO in Bosnien auf bis zu 12 000. Im Kosovo wurden rund 500 internationale und 6 000 lokale NGO registriert.
Das „NGO-Spiel“ sei „oft eine Mischung aus fehlgeleitetem Altruismus und finanziellem Eigeninteresse“, findet McMahon: „Mit viel Geld und tonnenweise guten Absichten“, aber ohne Orts- und Sprachkenntnisse tauchten Menschen aus dem Westen auf: „Sie schufen zahlreiche ‚lokale‘ Partnerorganisationen, investierten in Hilfe zur Selbsthilfe und finanzierten zahllose wichtige Projekte – alles im Namen von Frieden, Demokratie und Stabilität. Unterdessen taten die Einheimischen, was nötig und rational war: Sie gingen zu Meetings, organisierten Aktivitäten und täuschten Interesse für die neuesten Lieblingstheorien der Geldgeber vor.“ Zum Beispiel seien in Bosnien 300 Frauengruppen, aber keine Umwelt-NGO gegründet worden. Im Kosovo gab es mehrfach Kampagnen gegen Aids und Drogenmissbrauch, obwohl „weder das eine noch das andere ein größeres Problem war“. Echte Bedürfnisse der Einheimischen seien dagegen ignoriert worden.
Nach einer Weile versiegen Aufmerksamkeit und Gelder: Die Expats ziehen weiter, einheimische Aktivisten geben auf – die Bevölkerung bleibt „unzufrieden und desillusioniert“ zurück. Wegen der Abhängigkeit vom flatterhaften Ausland sei es lokalen Gruppen „praktisch unmöglich, langfristig eine eigene Agenda zu verfolgen“ und sich in der Gesellschaft zu verwurzeln. Die Konkurrenz um Hilfsgelder verstärkte sogar Spannungen. In Bosnien habe der kurzfristige NGO-Boom „eine lebendige Zivilgesellschaft lediglich simuliert“. Im Kosovo, wo sich die Albaner gegen den serbischen Staat organisiert hatten, sei von einst umtriebigen einheimischen NGO „nicht mehr viel übrig“.
Eher gut gemeint als rundum gut ist allerdings auch das Buch von McMahon: Alle Kritikpunkte werden mehrfach wiedergekäut; die Hälfte der Seiten hätte es auch getan. Erfahrungen ihrer zehnjährigen Feldforschung oder anschauliche Beispiele gönnt McMahon ihren Lesern kaum, längere Interview-Auszüge gar nicht. Zur abstrakt-wissenschaftlichen Sprache und den kryptischen Abkürzungen der internationalen Organisationen kommt eine politisch-korrekte Übersetzung: Seiten voller „Akteur_innen, Repräsentant_innen und Geldgeber_innen“ dürften selbst Feminist_innen strapazieren.
Für die Zukunft erwartet McMahon, dass der „humanitäre Zirkus“ weltweit weitergeht, „womöglich sogar mit noch mehr Geld“. Denn trotz aller Fehlschläge gebe es kaum Alternativen – und westlichen Staaten, Geldgebern und internationalen NGO fehle die Bereitschaft, etwas zu ändern. Originelle Verbesserungsvorschläge macht McMahon nicht. Sie fordert lediglich: „Mehr Forschung ist nötig, um herauszufinden, was diese Organisationen tun und was sie erreichen.“ Ob es dazu wirklich immer neue Studien braucht, das wäre auch mal eine Frage.