Auf über 90 Kilometern verbindet der Minetttrail die Gemeinden im Süden mit den Erholungsgebieten vom Minett. In unserer Sommerserie geht es um die Menschen, die man am Wegesrand trifft, und darum, was sie bewegt
Grüngelbe Wintergerste wiegt ihre Ähren im Wind. Die roten Köpfchen der Mohnblumen recken sich der Sonne entgegen, eine Frau läuft den Feldweg mit ihrem Hund entlang. Auf der gegenüberliegenden Seite des Weges stehen alte Steine zu Mauerresten in der Wiese aufgetürmt. Die würde kaum jemand beachten, wenn nicht ein Bauzaun um die Rasenfläche gezogen und Bürocontainer daneben gesetzt worden wären. Eine Infotafel vor dem Bauzaun erklärt: Hier stand einst ein keltischer Tempel. Wer auf dem Minetttrail von Differdingen nach Petingen läuft, einiges Auf und Ab hinter sich hat, den Fond-de-Gras mit seinem Freilichtmuseum zur Bergbaugeschichte und das ehemalige Tagebau- und heutige Naturschutzgebiet Giele Botter, reist auf dem Titelberg viel weiter in der Geschichte zurück. Zumindest erwartet man dies. Das Office Régional du Tourisme Sud und die Gemeinde Petingen vermarkten den Titelberg als keltische Ausgrabungsstätte. Das ist die Anhöhe zwar, doch sieht man davon nichts außer einer Infotafel. Die alten Steine stammen nicht aus der Keltenzeit. Der Stamm der Treverer hatte vor mehr als 2.000 Jahren hier eine Tempelstätte, doch die bestand aus Holz und ist längst verschwunden. Auf die Kelten folgten die Römer, die den Titelberg ebenfalls als Handelsplatz nutzten. Die Steine sind jedoch weder keltisch noch römisch, nicht einmal alt. Sie sind Andeutungen der römischen Gebäude, vor wenigen Jahrzehnten in die Wiese eingelassen. Wer auf dem Titelberg Reste des keltischen Heiligtums sucht, wird enttäuscht.
Dennoch ist der Titelberg Guy Kummers Stolz. Normalerweise führt der Präsident des Vereins Geschichtsfrënn Petingen Besuchergruppen im Wanderschritt auf die Hochebene, erzählt dabei von keltischen Tempelanlagen und rostigen Nägeln, die er zuhauf in den Wiesen findet und die tatsächlich Relikte der Kelten sind. Heute sind wir mit dem Auto unterwegs, denn Guy Kummer hatte eine Operation am Knie und kann mit Krücken nur kurze Strecken laufen. „Wenn Sie ohne Führer auf dem Titelberg sind, sehen Sie halt ein paar aufgebaute Mauern. Spannung null“, gibt er zu. „Das ist archäologisches Sperrgebiet, für den Tourismus mehr als unterentwickelt.“ Guy Kummer würde eigentlich gern ein Keltendorf als Freilichtmuseum nachbauen, doch das Interesse bei Archäologen und den Kulturbeauftragten der Gemeinde fehlt.
Kummer ist groß und stämmig, sein Haar ist grau, seine Stimme tief. Er ist 62 Jahre alt, einer der Jüngsten unter den Geschichtsfrënn. Die richtige Darstellung des keltischen Lebens auf dem Titelberg ist eines der großen Themen, die ihn beschäftigen. Ein zweites ist die Zukunft der Geschichtsfrënn. Der Verein zählt etwa 150 Mitglieder, nur eine Handvoll von ihnen ist engagiert und arbeitet mit. Fast alle sind über 60 Jahre alt und zwei sind im vergangenen halben Jahr gestorben. Die Geschichtsfrënn teilen das Schicksal vieler lokaler Vereine: Wenn es ihnen nicht gelingt, Nachwuchs zu begeistern, wird es sie in 20 Jahren nicht mehr geben. „Eine Gemeinde ohne Vereinsleben ist tot“, sagt der Petinger Kulturschöffe Jean-Marie Halsdorf. „Wir haben das während der Pandemie gesehen, es gab kein soziales Zusammenleben. Die Leute brauchen die Geselligkeit, den Austausch. Wir möchten das Bénévolat stärken.“ Die Gemeinde Petingen subventioniere mehr als 100 der knapp 200 Vereine der Gemeinde, sagt Jean-Marie Halsdorf. Das gilt besonders für vier Vereine, die in besonderer Partnerschaft zur Gemeinde stehen, darunter die Geschichtsfrënn. Sie erhalten logistische und finanzielle Unterstützung. „Wir helfen den Vereinen bei der Umsetzung von Veranstaltungen.“ Die Geschichtsfrënn wurden vom Schöffenrat als A.s.b.l. gegründet, um die Geschichte der Gemeinde aufzuarbeiten und zu archivieren. Petingen hatte Glück: Auch ohne viel Eigeninitiative kam dieses Jahr ein junger Mensch zu ihnen.
Im Geschichtshaus in Petingen, dem Hauptquartier der Geschichtsfrënn, führt Guy Kummer durch die Archive. Eine Bibliothek, Schränke voller Ordner, mehr Schränke voller Ordner. Guy Kummer kennt den Wert seiner A.s.b.l: „Jeder Verein gibt uns seine Archive, und wenn die dann eine Broschüre rausgeben wollen oder 100 Jahre feiern, fragen sie uns, könnt ihr nicht unsere Vereinsgeschichte aufarbeiten. Die wissen ja nicht, was 1925 passiert ist“, sagt Guy Kummer. Das Geschichtshaus ist ein helles Gebäude mit klaren Kanten, dessen Modernität und Offenheit im Kontrast zum angestaubten Image der Geschichtsfrënn steht. 2017 hat die Gemeinde Petingen den Geschichtsfrënn das Gebäude zur Verfügung gestellt. Es ersetzt die muffige Dachkammer am Rathausplatz, wo sie vorher ihr Büro hatten, und bietet dem Archiv einen sicheren Aufbewahrungsort. In einigen Vitrinen liegen Relikte Petinger Familien, Füller, Stempel, Teller. Eine Bibliothek sammelt alle Werke, die mit der lokalen Geschichte zu tun haben, die Sport- und Kulturvereine lassen ihre Archive von den Geschichtsfrënn verwalten.
Die alten Stadtpläne und Landkarten hat Liv Heiderscheid mit Holzleim geklebt, damit sie nicht auseinanderfallen, und ordentlich abgelegt. Außerdem hat sie, zusammen mit Guy Kummer, 18 000 Fotos eingescannt, sortiert und kategorisiert. Die sind jetzt auf dem PC leicht zu finden. Liv Heiderscheid ist 29 Jahre alt, tätowiert und trägt Nasenpiercing und Locken. Seit knapp fünf Monaten arbeitet sie vier Stunden täglich als Freiwillige bei den Geschichtsfrënn. Liv Heiderscheid holt zurzeit an der Abendschule ihr Abitur nach. Der Service National de Jeunesse bot ihr an, ein Bénévolat bei den Geschichtsfrënn zu absolvieren. Denn für Geschichte interessiert sie sich. „Guy fordert mich immer“, sagt sie. „Gestern hat er mich gefragt: Wo kommt denn der Blanne Jang her? Und ich: Ööööh, weiß ich nicht. Ich lerne hier viel dazu. Wenn meine Zeit hier vorbei ist, komme ich auf jeden Fall weiter her.“
Wichtiger ist jedoch, was die Geschichtsfrënn von ihr lernen können. Photoshop, Excel, Instagram, Facebook – Guy Kummer gewöhnt sich langsam an die Mittel, die die Arbeit erleichtern und die Reichweite erhöhen sollen. Ganz überzeugt ist er allerdings noch immer nicht: „Wir sehen, dass unsere neue Bucherscheinung fast 4 000-mal geklickt wird, aber das Buch wird nicht entsprechend gekauft.“ Liv sagt: „Ja, Geld ausgeben ist wieder etwas anderes. Aber man erreicht halt Leute.“ Zögerlich stimmt Guy Kummer zu, Reichweite ist auch etwas wert. Er steht eher für die Geschichte und für Geschichten. Während des Hausrundgangs erzählt er vom Tod des Amerikaners Hyman Josefson, vom Petinger Radsportler Bim Diederich, der in den 1950er-Jahren ein paar Etappen der Tour de France gewann und dessen Medaillen im Geschichtshaus verwahrt werden.
Guy Kummer selbst hat eine Modernisierung der Geschichtsfrënn angekurbelt. Bis 2008 war er Fondsmanager bei einer Bank, fragte dann bei der Gemeinde Petingen nach Arbeit und bekam die Aufgabe, die Archive des Vereins in Ordnung zu bringen. „Damals waren da so große, wollene Vorhänge, die haben mich immer gekratzt“, erinnert er sich. Er arbeitete anschließend vier Jahre in der Tourismusabteilung der Gemeinde und blieb den Geschichtsfrënn dabei treu. Der reinen Archiv- und geisteswissenschaftlichen Arbeit des Vereins fügte er offenere Angebote hinzu, fing an, Führungen auf dem Titelberg und durch die alte Mühle von Lamadelaine zu geben, organisierte eine Ausstellung mit Fotos der hauptstädtischen Photothèque, nicht ohne Widerstand, erzählt er. „Die Pensionäre, die Lehrer und Professoren, meinten: Das ist kein Haus für Fotoausstellungen.“ Im Februar hat Guy Kummer die Präsidentschaft des Vereins übernommen und eine seiner ersten Erklärungen im Komitee war ein weiterer Punkt des Anstoßes: „Ich habe gesagt, wir müssen umschwenken, ihr habt alle Zipperlein. Wir brauchen junge Leute im Komitee, die den Mund aufmachen und Ideen einbringen.“ Das Problem muss früher oder später in Angriff genommen werden, bevor die Zeit abläuft. Doch ein Lösungsweg schien den Geschichtsfrënn nicht greifbar. Sie sind Historiker, Beobachter, keine Problemlöser. Etwa 20 Stunden wöchentlich kostet Guy Kummer sein Amt im Verein. Wer noch berufstätig ist oder Kinder großzieht, kann schwerlich die Zeit aufbringen. Die Gemeinde hat inzwischen einen Schritt unternommen, um ihre Arbeit zu stärken. Bald werden sie Unterstützung eines professionellen Archivars bekommen, die Stelle ist schon ausgeschrieben. „Viele Vereine bezahlen ihre Mitglieder. Professionalisierung wird sich wahrscheinlich aufdrängen“, sagt Jean-Marie Halsdorf voraus. Auch sieht er die Notwendigkeit, die Vereine in Zukunft zu coachen.
Auch ohne Eigeninitiative der Geschichtsfrënn rief noch am selben Nachmittag der Komiteessitzung Liv Heiderscheid an. „Ich habe erst gedacht, das sei ein Scherz“, sagt Kummer. Eine junge Frau, die noch dazu an Geschichte interessiert ist. „Sie weiß, dass sie erst am Anfang ihrer geschichtlichen Karriere steht. Es gibt noch viele Bücher.“ Aber sie ist auf dem richtigen Weg, findet er. Sie interessierte sich schon immer dafür, wie die Menschen früher gelebt haben, und hat inzwischen ein reges Interesse an den Kelten entwickelt. Sie hätte Lust, in keltischen Gewändern Besucher über den Titelberg zu führen. Ganz unvermittelt fragt Guy Kummer sie: „Wofür stehen die fünf Buchstaben der Arbed?“, als das Gespräch auf Dommeldingen kommt. Auch ermahne er sie, auf ihre Rechtschreibung zu achten, sagt Liv und findet das ganz vernünftig.
Ab und zu kommt sie auch raus aus dem Geschichtshaus, aus den Aktenordnern und Fotos. begleitet Guy Kummer auf Führungen über den Titelberg oder zur Mühle von Lamadelaine. In dem alten Gebäude riecht es nach Lehm und feuchtem Holz – die älteste Mühle der Gemeinde. An der Wand hängt ein Gemälde vom Millen Jängi, dem alten Müller. „Der hat hier auf dem Strohsack bei der Kochmaschine geschlafen, weil es das wärmste Zimmer war. In dem Strohsack hatte er sein ganzes Geld versteckt“, erzählt er. Er führt durch die Küche, erklärt den Mahlstein und erzählt Anekdoten. Wir verlassen die Mühle durch die Hintertür, Guy Kummer zeigt uns den Teich, und während er schon in den Erzählungen über das größte Mühlenrad der Großregion vertieft ist, läuft Liv noch einmal zurück, und schließt die Tür. Als wir wieder vor dem Gebäude stehen, fällt es Guy Kummer auch ein. „Liv, läufst du noch mal hoch und machst die Tür zu?“ Nachsichtig antwortet sie: „Habe ich schon gemacht.“