Ein Haufen Erde ist das Erste, was Besucher des Museums Ferrum in Kayl sehen, noch bevor sie die Ausstellung Working Class Heroes betreten – ein symbolischer Haufen Erde: Minett-Gestein. Darauf thront ein Arbeiter, der wahre Schatz der Region. Die Ausstellung rückt drei Persönlichkeiten ins Scheinwerferlicht, die die Arbeiterrechte maßgeblich vorangetrieben haben: Jean-Pierre Bausch, Léon Weyrich und Jean Schortgen. In Videoinstallationen geben Schauspielern ihren flammenden Reden eine Stimme. Im Ausstellungsraum lernt der Besucher über das Leben der Arbeiter im Machtkampf zwischen Kirche und Sozialisten, und gegen die Übermacht der Minenbesitzer. Im Mittelpunkt stehen die drei Arbeitskämpfer und ihr soziales Umfeld. Der Gang zum Hauptsaal ist mit Gesetzestexten gepflastert: Das Gesetz vom 6. Dezember 1876 über die Arbeit der Kinder und Frauen etwa besagt: „Vor vollendetem 12. Lebensjahre dürfen Kinder zu Arbeiten in Fabriken, Werkstätten, Werkplätzen oder Usinen, im Allgemeinen, außer dem Familienkreise, unter den Befehlen eines Arbeitgebers nicht verwendet werden.“
Marie-Paule Jungblut, Kuratorin der Ausstellung, erklärt: „Ab den 1870er Jahren verändert sich die soziale Struktur hier im Süden und die Regierung rennt hinterher. Sie möchte die wirtschaftlichen Interessen verteidigen, das Gestein ist der Reichtum, aber gleichzeitig die Arbeit. Es kommt zu einer ersten Arbeitergesetzgebung. Das ist das Umfeld, in dem der Besucher die drei Helden kennenlernt.“ Jean-Pierre Bausch aus Rümelingen wurde als erster Arbeiter Abgeordneter und Bürgermeister. Léon Weyrich war der erste Präsident der Arbeiterkammer, und Jean Schortgen der erste Arbeiter, der überhaupt als Abgeordneter 1914 ins Parlament gewählt wurde, und er war Tetinger.
Mehr noch als die drei Herren steht in der Schungfabrik Kayl jedoch das Musée vun der Aarbecht (Muar) im Mittelpunkt. Es geht nicht nur um eine Ausstellung, sowie es nicht nur um die eine Zeitepoche geht, deren Industrieromantik als Vermarktungsschwerpunkt der Kulturhauptstadt ohnehin ausgeschlachtet wird. Dem Muar geht es um die Arbeit, die von damals, die von heute und die Arbeit der Zukunft. Sich als Museum auf die Arbeit als Ganzes zu fokussieren, „das hat bisher niemand gemacht“, sagt Guy Assa, Kulturbeauftragter der Gemeinde Kayl und einer der Initiatoren von Muar. Das Thema ist vielversprechend und lässt sich in viele Richtungen weiterspinnen.
Das Muar versteht sich als „Museum ohne Mauern“. Konkret bedeutet das, dass es kein Gebäude hat. Die ASBL ist eher Veranstalter als Veranstaltungsort. Da das Muar sich als nationales Museum versteht, ist es eine Chance, nicht an die Räume von Kayl gebunden zu sein. Konferenzen und Konzerte zu den Themen der Arbeit können in allen Teilen des Landes stattfinden und auch Interessierte ansprechen, die nicht im Minett sind. Der Begriff eines Museums lässt sich aber durchaus hinterfragen. Guy Assa wirft auf: „Ist das Museum nur ein Ort, wo man Gegenstände hinstellt, die mal wichtig waren, die man nur nicht anfassen, nur nicht infrage stellen darf? Oder versteht man Museum heute als eine Begegnungsstätte, wo man sich Fragen stellt?“ Partner der ASBL sind unter anderem das Luxembourg Institute for socio-economic Research (Liser) und die Chambre des salariés. Die Forschenden vom Liser werden Recherchen in der Schungfabrik vorstellen, im Austausch mit Bürgern. Geht es in der aktuellen Ausstellung noch um die Geschichte der Arbeit, so will das Muar in den kommenden Programmpunkten auch auf heutige und zukünftige Problemstellungen eingehen, die mit der Arbeit verbunden sind. Eine dieser brennenden Fragen wird in Working Class Heroes angerissen und soll beim Muar noch eine größere Rolle spielen: Was ist mit Arbeiterinnen? Zu den Frauen in der Arbeitswelt plant das Muar für September eine Table Ronde in der Arbeiterkammer.
Die Anbindung an die Schungfabrik gibt dem wandernden Muar trotzdem eine Art Heimat. Das Museum Ferrum wird auch in Zukunft seinen Ausstellungsraum für die Programme des Muar zur Verfügung stellen. Das Ferrum, im Dezember eröffnet, ergänzt das Kulturzentrum Schungfabrik in Tetingen. Innen riecht es noch neu, nach Farbe und Holz. Das Ferrum ist ein weiterer Faden im Museumsteppich, der den Süden mit zeitgeschichtlicher Betrachtung der Minen- und Stahlindustrie abdeckt. Im Mittelpunkt der Dauerausstellung steht die Wirtschaft, die sich rund um die Eisenindustrie entwickelt hatte, wie zum Beispiel die Schungfabrik. Working Class Heroes ist nach der Eröffnungsausstellung der Malerei von Emile Kirscht im Dezember der zweite Programmpunkt. Sie läuft unter dem Dach von Esch2022. Deshalb – und auch aufgrund Kayls regionaler Identität – liegt die Erzindustrie als erstes großes Thema von Muar nahe.
Außerdem soll die Ausstellung über die Vergangenheit der Gegenwart den Spiegel vors Gesicht halten. „Wir zeigen auf, was diese Leute alles leisten mussten, um sich Gehör zu verschaffen. Und ich denke, heute sieht es nicht viel besser aus.“ Noch immer, so gibt Assa zu Bedenken, sind Arbeiter in Abgeordnetenkammern und selbst in Gemeinderäten eine Seltenheit. Kuratorin Marie-Paule Jungblut fügt hinzu: „Wir wollen das infrage stellen, wo sind wir heute, wie weit sind wir gekommen.“ Als Kuratorin muss sie sich die Frage stellen: Was ist daran noch aktuell? „Die Fragen, die wir an die Vergangenheit haben, sind die Fragen unserer Zeit.“ Hinter den Türen weißer Spinte schlägt die Ausstellung mit Porträts der „modernen Helden“ der Arbeiterschaft den Bogen zur Gegenwart. Dort hängt zum Beispiel das Porträt von Angelo Filippetti, der Minenarbeiter und in den 1980er Jahren Bürgermeister von Audun-le-Tiche war. Seine Tochter Aurélie Filippetti, ehemalige Kulturministerin in Frankreich, hat das Muar zu einer Lesung aus ihrem Buch Les derniers jours de la classe ouvrière eingeladen.