Europa ist allein nicht handlungsfähig. So einfach und bitter ist immer noch die Wahrheit über die europäische Außenpolitik. Anfang der 90-er Jahre, angesichts des Schreckens und der Scham über das Versagen der Europäischen Union in der jugoslawischen Erbfolgekriegen, schworen sich viele, dass diese Ohnmacht nicht mehr vorkommen dürfe. Die zarten Pflanzen einer gemeinsamen Außenpolitik, die mehr ist als nur ein Schatten ihrer selbst, finden ihre Wurzeln in den Kriegen des Balkan. Der Lissabon-Vertrag ist nicht zuletzt deshalb zustande gekommen, weil die EU endlich mit einer Stimme sprechen wollte. Nichts dergleichen ist ihr gelungen. Die EU steht vor einem Scherbenhaufen.
In Libyen bewegte sich die EU erst, nachdem der amerikanische Präsident Obama klarmachte, dass es genug sei und der Zeitpunkt des Handelns gekommen sei. Dasselbe Muster hat sich nach den schändlichen Heckenschützenmorden der syrischen Regierung gegen ihre demonstrierenden Bürger wiederholt. Als am Ostermontag Panzer die Stadt Daraa abriegelten, hatte Amerika genug gesehen und erhob seine Stimme. Obama forderte als erster westlicher Regierungschef Sanktionen gegen Syrien. Am Montag zogen die Europäer nach: in Berlin, London und Paris.
Am 23. April hatte Lady Ashton, Hohe Repräsentantin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission – allein der Titel ist beinahe eine halbe Presseerklärung – noch in ultimativem Ton gefordert, dass die syrische Regierung ihre gewalttätige Antwort gegenüber den friedlichen Demonstranten stoppen sollten, ohne auch nur die leiseste Antwort auf die Frage zu geben, was Europa denn zu tun gedenke, falls die syrische Regierung diesem Ansinnen nicht nachkommen würde. Es war eine Presseerklärung der Pflichterfüllung, um danach mit dem Bewusstsein, sein Möglichstes getan zu haben, in den verdienten Osterurlaub abreisen zu können.
Niemand kann der EU und ihren wichtigsten Akteuren, den Mitgliedstaaten, vorwerfen, sie würden sich nicht mit der neuen Lage in den arabischen Staaten befassen. Am 12. Mai wird der Rat abermals zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentreten. Es wird der Rat der Innenminister sein. Daran wird zweierlei deutlich. Erstens: Die Innenpolitik schlägt die Außenpolitik. Zweitens: Eine gemeinsame Sitzung von innen- und außenpolitischem Rat kommt niemand in den Sinn. Der politischen Phantasie sind in Europa furchtbar enge Grenzen gesetzt.
Berlusconi und Sarkozy fordern diese Woche unisono in Rom eine Änderung des Schengenabkommens zum freien Personenverkehr, um jederzeit wieder Grenzkontrollen einführen zu können. Eine gemeinsame europäische Antwort auf die arabische Migrationsfrage, die ja erst in Gang kommt und mit den wenigen Tunesiern, die sich gerade auf den Weg gemacht haben, keineswegs beendet sein wird, ist so gut wie ausgeschlossen. Lieber will man eine der Errungenschaften schleifen, die zu den nützlichsten und augenfälligsten für die europäischen Bürger gehören, als dass man versucht, dem eigenen Publikum mit einer freiwilligen Aufnahme von Flüchtlingen eine Anstrengung zuzumuten, die sich langfristig für das alternde Europa nur auszahlen kann. Sei es, weil seine sich lichtenden Reihen gefüllt werden, sei es weil Tunesier, die – ausgebildet? – in ihre Heimat zurückkehren den Anspruch auf Rechtstaatlichkeit und Demokratie noch stärker in ihrem Land verankern werden.
Die Europäische Union hat in ihrer Gesamtheit nicht begriffen, dass man nach den arabischen Revolutionen nicht zur Tagesordnung übergehen kann. Das gilt für die europäische Politik ebenso wie für die EU-Bevölkerung. Beiden fehlt der machtpolitische Wille im eigenen Hinterhaus tatkräftig für eine Politik des ungeschminkten Eigeninteresses einzutreten. Dieses Eigeninteresse bedeutet, dass nur ein demokratisches Mittelmeer langfristig Sicherheit und Stabilität an der südlichen Grenze der Union bieten kann. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Union kräftig investieren.
Im Europäischen Parlament steht im Mai ein Bericht zur Außenpolitik zur Abstimmung. Es ist ein so genannter Initiativbericht. Das ist nicht mehr als eine einfache Resolution. Darin bettelt das Parlament einerseits darum, doch bitte ein wenig mitbestimmen zu dürfen, schließlich könnte es der Hohen Repräsentantin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission ja alle fünf Jahre die Bestallung versagen. Anderseits versuchen die Abgeordneten den Rat zum Jagen zu tragen. Er möge doch endlich, bitte, bitte, die notwendigen Strukturen schaffen, wie zum Beispiel ein gemeinsames europäisches Hauptquartier, das die EU erst in die Lage versetzen würde, in Krisensituationen wie in Libyen gemeinsam handlungsfähig zu sein. Von Frontex ist auch die Rede, es soll zum Kern einer europäischen Grenztruppe ausgebaut werden.
Berlusconi und Sarkozy fordern plötzlich auch den Ausbau von Frontex. Die Agentur wird aber zu einem Repressionsinstrument für Flüchtlinge entarten, wenn es nicht gleichzeitig mit ihrem Ausbau zu einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik kommt. Hier ist der europäische Solidaritätsgedanke genauso angebracht wie bei der Eurorettung. Bremser sind vor allem die Mitgliedstaaten, die Angst haben, ihre Zuständigkeiten zu verlieren, und deren Regierungschefs ihre Wähler fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Europa versagt zur Zeit doppelt: nach innen und nach außen.