Unsere Gesellschaft ist mobil. Was sonst? Mobilität ist das Sinnbild unserer Freiheit, noch vor Menschenrechten und Verfassungsparagrafen. Wer hingehen kann, wohin er will, ist auch geistig nicht mehr so leicht einzusperren. Mobilität ist unabdingbare Voraussetzung unseres Wohlstandes. Wenn sich die Räder drehen, läuft die Wirtschaft. Ganz augenfällig kann man das an der Länge der LKW-Kolonnen auf ihrem Weg von oder nach Rotterdam beziehungsweise Antwerpen messen. Mobilität ist aber auch ein Auslaufmodell, zumindest so, wie man sie bisher gewohnt war.
Die Europäische Kommission hat letzte Woche ein neues Weißbuch zum Verkehr vorgelegt. Der Titel kommt langsam daher: Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem. Das spiegelt so gar nicht das revolutionäre Tempo wider, das die EU-Kommission, will sie wirklich Ernst machen, einschlagen muss, um ihre Ziele zu erreichen und erinnert eher an eine alte Dampflok. Wohl auch deshalb lautet die Kurzfassung „Verkehr 2050“. Das geht schon eher ab wie eine Rakete. Wir schnallen uns besser an.
Die Ziele der EU-Kommission haben es in sich. Bis 2020 sollen statt rund 40 000 Menschen im Jahr nur noch etwa 20 000 in der EU bei Verkehrsunfällen sterben. Bis zum Jahr 2050 soll die Zahl der Verkehrstoten bei „nahe Null“ liegen. Bis dahin sollen auch alle Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren in Städten verboten sein. 50 Prozent des Personen- und Güterverkehrs über eine Entfernung von 300 Kilometern sollen von Bahn und Schiffen transportiert werden. Flugzeuge sollen bis zu 40 Prozent Biosprit verbrennen, der aber nicht mehr so heißen darf, und Schiffe sollen ihre CO2-Emissionen um 40 Prozent verringern. Das Ganze soll erreicht werden, obwohl der Güterverkehr um 80 Prozent zunehmen und auch der Personenverkehr wachsen soll. Dennoch heißt es unter Punkt 18 lapidar: Die Einschränkung von Mobilität ist keine Option.
Zweifel, ob das stimmt, drängen sich auf. Mobilität soll zwar nicht eingeschränkt, aber viel stärker geregelt werden. Verglichen mit der Vision der Kommission für die Mitte unseres Jahrhunderts, war der Verkehr der letzten 50 Jahre die reine Anarchie. Es bleibt aber keine andere Wahl. Ginge alles so weiter wie bisher, würde die Ölabhängigkeit des Verkehrs auch 2050 noch bei circa 90 Prozent liegen und die CO2-Emissionen würden dann um 30 Prozent höher ausfallen als 1990. Stattdessen sollen sie um 60 Prozent sinken.
Erreichen will die Kommission ihre Ziele mit einem „Kernnetz von Korridoren, die große, konsolidierte Volumina im Güter- und Personenverkehr mit hoher Effizienz und niedrigen Emissionen aufnehmen können dank einer extensiven Nutzung effizienterer Verkehrsträger in multimodaler Kombination und einer breiten Anwendung fortgeschrittener Technologien sowie einer Versorgungsinfrastruktur für umweltfreundliche Kraftstoffe.“ Das ist reine, wunderbare Poesie und lässt nicht nur die Frage offen, wie wohl sich der Einzelne in den konsolidierten Volumina des Jahres 2050 noch fühlen wird, in denen er von A nach B hin- und herbewegt wird. Der Satz gibt auch keine Antwort auf die sogar von der Kommission aufgeworfene Frage, wie man verhindern kann, dass ganze Regio-nen von der Entwicklung abgehängt werden, wenn sie nicht in das Kernnetz eingebunden sind.
Das Weißbuch soll der Fahrplan für zehn Jahre europäischen Gesetzgebung im Verkehrsbereich sein, die wichtigsten Vorhaben sollen noch in der laufenden Legislaturperiode angepackt werden. Die Kommission weist indirekt auf einen entscheidenden Mangel hin, der ihrer Politik grundsätzlich im Wege steht, indem sie die wahrscheinlichen Kosten auflistet. Es fehlt ihr schlicht an Schmier- und an Treibstoff für die Umsetzung ihrer Politik.
Der „verkehrsbedarfsgerechte“ Ausbau bis 2030 kostet 1500 Milliarden Euro. Die Vollendung der transeuropäischen Netze (TEN-V) bis 2020 nochmals 550 Milliarden Euro. Dazu kommen noch rund 1 000 Milliarden Euro Systemkosten, worunter Investitionen in Fahrzeuge, Ausrüstung und eine neue Infrastruktur für Zahlungen (unter anderem Mautgebühren) zu verstehen sind. Das wären 3 000 Milliarden Euro bis 2030. Beim Kostenvoranschlag hat die visionäre Kraft nicht bis 2050 gereicht. Wie die-se Summen gemeinsam mit den Mitgliedstaaten finanziert werden sollen, bleibt letztlich offen, klar ist nur, dass Mobilität für Personen und Güter erheblich teurer werden wird. Die Internalisierung externer Kosten ist für die Kommission der Königsweg. Eben daran haben sich schon viele nationale Verkehrspolitiker die Zähne ausgebissen.