Monumental, geheimnisvoll und berühmt: mit Fotos von Jeff Wall kann ein Museum nicht viel falsch machen. Die Kunsthalle Mannheim wollte zu ihrer Wiedereröffnung kein Risiko eingehen. Für ihre erste Sonderausstellung, eine Koproduktion mit dem Luxemburger Mudam, füllte sie in ihrem neuen Haus das Erdgeschoss mit großformatigen Bildern des kanadischen Künstlers. „Jeff Wall ist ein Pionier der Fotografie, ein Konzept-Fotograf“, schwärmt Ulrike Lorenz, die Direktorin der Kunsthalle: „ein Klassiker der zeitgenössischen Kunst“.
Der 1946 in Vancouver geborene Fotograf und Kunstgeschichtsprofessor gilt als „blue chip“ des Kunstbetriebs. Wall hat den Hasselblad Award und allerhand andere Auszeichnungen bekommen. Seine letzten Einzelpräsentationen waren im Louisiana bei Kopenhagen, im Bozar in Brüssel, in der Kunsthalle Wien. In Deutschland, wo er als Vorbild von Andreas Gursky und der „Düsseldorfer Schule“ besonders geschätzt wird, waren Werke von ihm schon gut hundert Mal in Ausstellungen zu sehen, allein bei der Documenta vier Mal. Ein Print von Dead Troops Talk wurde 2012 von Christie‘s für mehr als 3,6 Millionen Dollar versteigert – und zählt damit zu den bislang teuersten Fotos der Welt.
Rekordverdächtig sind auch die Produktionskosten, die für ein Bild schon mal 100 000 Dollar erreichen. Akribisch wählt Wall Orte aus, engagiert Schauspieler, arrangiert aufwendige Kulissen und achtet auf jedes Detail. Mehr als ein Jahr brauchte er zum Beispiel, um an einem Kanal in Kanada eine Windstoß-Szene von Hokusai nachzustellen. Dutzende Einzelaufnahmen werden montiert und digital nachbearbeitet, damit die Ergebnisse dann wie spontan-zufällige Schnappschüsse oder auch wie sorgfältig komponierte Film-Stills aussehen. Wall nennt seine Arbeitsweise „cinematographic“ und „near-documentary“.
Dass er von Medien gern als „langsamster Fotograf der Welt“ bezeichnet wird, gefalle ihm nicht so gut, sagte Wall bei der Eröffnung der Ausstellung in Mannheim: „Es dauert einfach lange, bis ich bekomme, was ich möchte. So wie ein Bildhauer sich so viel Zeit nimmt, wie er braucht, um eine Skulptur zu vollenden.“ Seit er im Jahr 1967 damit anfing, hat Wall bis heute nur etwa 200 Arbeiten veröffentlicht. Davon haben die Kuratoren Sebastian Baden von der Kunsthalle Mannheim und Christophe Gallois und Clément Minighetti vom Mudam rund 30 ausgewählt, aus dem Atelier des Künstlers und von Leihgebern. Den vieldeutigen Ausstellungstitel Appearance hat Wall selbst gewählt.
Ausgangspunkt der Schau ist der mehr als zweieinhalb Meter breite Farbabzug Search of premises aus dem Jahr 2009: Zwei Polizisten in Schusswesten durchwühlen Papiere in einem Wohnzimmer; der Teppich sieht frisch gereinigt aus. Ein Tatort? Wie immer bei Wall müssen Betrachter sich dazu eine eigene Geschichte ausdenken. Die Ausstellung zeigt keinen Querschnitt von Walls Werk, sondern gruppiert Bilder zu zentralen Themen: das Rätselhafte und das Groteske, Bild-im-Bild-Beziehungen, Menschen im Interieur, Sprache und Geste sowie Rollenspiel und Interaktionen.
Ein frühes Schlüsselwerk ist Picture for women von 1979: Die erstarrte Fotoatelier-Szene mit einem Modell ist eine Hommage an Un bar aux Folies Bergère von Manet. Das Gemälde lernte Wall kennen, als er in London am Courtauld Institute Kunstgeschichte studierte. An Manet erinnert auch Summer afternoons von 2013: eine nackte Schönheit, wie Olympia auf einem Diwan ausgestreckt. Walls Bilder sind voller Verweise auf Kunst und Musik, Literatur und Film. Zum Beispiel bezieht sich After ‚Invisible Man‘ by Ralph Ellison auf einen Roman: Ein Schwarzer wird von der herrschenden weißen Bevölkerung nicht wahrgenommen und hat sich in einen Keller voller Glühbirnen zurückgezogen.
Die Ausstellung zeigt nur wenige der Dia-Leuchtkästen, die Wall Ende der 1970er Jahre berühmt machten. Ihr Schwerpunkt liegt auf Schwarz-Weiß-Fotos ab 1995 und Farbprints seit 2007, die bisher noch kaum zu sehen waren. So wie die Abzüge strahlen und glänzen, werden die meisten Besucher allerdings kaum Unterschiede bemerken. Die Sujets ähneln sich oft: Alltagsszenen aus Suburbia in Nordamerika. Auf den ersten Blick erscheinen bejeanste Menschen, heruntergekommene Häuser und rostige Autos banal. Bei längerer Betrachtung sind nicht nur kunsthistorische Zitate zu entdecken – die Bilder wirken beklemmend: Irgendetwas stimmt nicht; im nächsten Moment wird ein Unheil hereinbrechen; zumindest droht eine Schlägerei.
Mit Essays und Interviews hat Wall die Entwicklung seines Werkes und dessen Wahrnehmung begleitet, beziehungsweise sogar gesteuert, notiert Sebastian Baden: Er habe die „Einschreibung in die Kunstgeschichte wie kaum ein anderer Künstler perfektioniert, weshalb sein Werk ikonologisch und dialektisch angelegt ist – in Bildern und Texten“. Er habe eine so intensive Kommunikation über Fotografie als Kunst angeregt und zugleich deren künstlerische Anerkennung soweit legitimiert, dass „sich aus heutiger Perspektive die Frage stellt, wie seine Fotografie umgekehrt die Kunst beeinflusst hat“.
Am 25. und 26. Juli veranstaltet die Kunsthalle Mannheim das Symposium „Fotografie als Kunst – Jeff Walls Bedeutung heute“. Zu den Themen, denen Kunst- und Foto-Historiker bei dieser Tagung nachgehen wollen, gehört die aktuelle Bewertung der von Wall etablierten Tableaus, seine Beziehung und Abgrenzung zu anderen Künstlern, aber auch zum Beispiel die Frage „Welche Aspekte der Kunstgeschichte sind im Werk von Wall bislang unerkannt geblieben?“ Selbst Fachleute entdecken in Walls Bildern immer neue Rätsel.