Christi Himmelfahrt 2013. Im alten Luxlait-Komplex in Erpeldingen, der Laduno, werden neue Wege in der Nahrungsmittelproduktion beschritten. Auf dem im Verfall begriffenen Gelände stehen Aufstellpappen, Wegweiser, Banderolen. Alle versprechen sie das Gleiche: Food for your Senses. Um die 50 Leute wuseln durcheinander. Hämmern. Schrauben. Sprühen. Sie sind jung. Ein Profil von ihnen zu zeichnen, fällt schwer. Sie sind Teil dieser Generation, die sich, glaubt man dem Feuilleton, der Definition entzieht. Sich durch ihre Unbestimmtheit auszeichnet. Was Pit, den Realschüler, mit Philipp, dem Staatsangestellten, an diesem Donnerstag verbindet, ist dennoch so offensichtlich, dass es eigentlich keiner Benennung bedarf. Sie sind hier. An einem Feiertag. Um zu arbeiten. Freiwillig.
Das Versprechen will eingelöst werden. Wieder einmal. Es ist Anfang Mai. Eine knappe Woche bis Festivalbeginn. Erst vor kurzem konnte der diesjährige Austragungsort bestätigt werden. Eine Brachfläche in einer Industriezone in Bissen. Eine Standortverlagerung, die manche als Verrat aufnehmen und dies prompt in den Sozialen Medien kundtun. Food ist Tüntingen. Ohne Tüntingen kein Food. Parolen, die einerseits die Identifikation mit dem Festival unterstreichen, andererseits jede Berücksichtigung der komplexen Organisationsmechanismen, die mit einem dreitägigen Festival einhergehen, vermissen lassen. Und der Festivalgeschichte. Standortprobleme begleiten das Festival seit seinem Auszug aus dem Keller in Tüntingen an die freie Luft. 2011 etwa sollte das Festival in Marienthal stattfinden. Der Festivalplan war bereits gedruckt, der Pendelverkehr bereits eingerichtet. Zwei Wochen vor Beginn: der Rückzug nach Tüntingen. Eine Wildkatzensichtung verhinderte die Austragung auf dem neuen Gelände.
Luka Heindrichs, Pressesprecher des Festivals, kennt unzählige solcher Anekdoten. Er erzählt sie mit jener Mischung aus Abgeklärtheit und Galgenhumor, die man eher von altgedienten Kriegsreportern erwartet. Vom Pächter, der nach Erläuterungen zur kulturellen Ausrichtung des Festivals einfach den Hörer auflegt. Vom Raubwürgerpärchen, das hundert Meter Luftlinie von einem der größten Industriegebiete im Norden des Landes, nicht in seinem natürlichen Lebensraum gestört werden darf. Schnell wird klar: Der Wirkungsbereich eines Festivals beträgt keinesfalls nur drei Tage und er betrifft auch nicht nur die rund 8 000 Besucher. Ein Festival als zeitweiliges kulturelles Subjekt produziert langfristige Nachwirkungen. Sowohl für den Austragungsort als auch für die Veranstalter und Freiwilligen. Fluchtwege müssen besprochen werden. Die Verkehrssituation mit Polizeiverantwortlichen abgeklärt werden. Grundbesitzer und Pächter müssen zustimmen. Die Naturschutzbehörde muss konsultiert werden. Der Gemeinderat muss mit einbezogen werden. Das Ziel des Festivals sei es, „eine Welt für ein Wochenende zu erschaffen“, so Luka zum Schluss. Nur, wie erschafft man eine Welt, wenn schon so viel Welt da ist?
Man bezieht die Welt mit ein. Das Food for your Senses ist seit seinen Anfängen ein partizipatorisches Festival. Oberflächlich wird dies am Line-up deutlich. Etwa die Hälfte der Bands, die die drei Bühnen bespielen, kommt aus Luxemburg. Für viele bietet das Festival die Chance, erste Bühnenerfahrung zu sammeln. Die Logistik und der Aufbau machen diesen partizipatorischen Charakter jedoch noch deutlicher. Das Food wird getragen von Freiwilligen. Von Volontären wie Tom, Anfang zwanzig, der, einen Tag nach seiner Rückkehr aus Peru, am Montagmorgen die Mitverantwortung fürs Catering übernimmt. Ohne Vorerfahrung oder Eignungsprüfung. Vor sich: über eine Woche prall gefüllt mit sechzehn-Stunden-Tagen. Oder Luis, aus Murcia, der als Volontär des European Volunteer Service Absperrgitter schleppt und mit einem ironischen Schmunzeln anmerkt, dass es hier im Norden doch erstaunlich viele Arten von Schlamm gibt. Manchmal überschneiden sich Bühne und Backstage. Noura etwa bespielt mit ihrer Band Make Some Noize sonntags die Cornerstage, während sie sonst neben Tom im Catering arbeitet. Auf ihre freiwillige Arbeit angesprochen reagieren Tom, Luis und Noura ähnlich: „Ja, und die Anderen? Die doch auch.“
Und sie haben Recht. Immer wieder steht jemand unangemeldet auf dem Festivalgelände und bietet seine Hilfe an. Menschen, die sonst an Schreibtischen arbeiten oder noch studieren, schaufeln auf einmal Lastwagen frei oder fahren Mulch mit dem Radlader aus. Als am Sonntag das Festival endgültig im Schlamm versinkt, finden sich prompt Landwirte, die steckengebliebene Autos aus dem Morast ziehen. Natürlich ist die Organisation des Festivals nicht komplett in der Hand von Volontären. Die Planungszeit beginnt Monate im Voraus und beschäftigt sieben Mitarbeiter Vollzeit. Der Planungsrahmen erstreckt sich vom Booking der neunzig Bands über eine eigene Grafikabteilung hin zum Bau ökologischer Möbel. Das Festival steht in enger Kooperation mit dem Centre socioculturel régional De Prabbeli aus Wiltz, dem SNJ und dem Kulturministerium. Dem ganzheitlichen Anspruch, allen Sinnen gerecht zu werden, folgt jedoch eine Detailversessenheit, die man auf anderen Festivals vermisst. Neben drei Musikbühnen, findet sich ein Kunstzelt mit an die dreißig teilnehmenden Künstlern, eine Lesebühne, ein Massagezelt und zum ersten Mal ein kleines Kinozelt. Diese Vielfalt ohne Freiwillige zu organisieren wäre wohl unmöglich.
Wenn das Food for your Senses für etwas steht, dann für einen Reibungspunkt der gegenwärtiger nicht sein könnte. Dem Reibungspunkt zwischen Idealismus und Materialismus. Wie konkretisiert man Ideale? Heißt Pragmatismus bloß, seine Überzeugungen den Gegebenheiten anzupassen? Ist das falsch? Und auch wenn wohl jeder der Beteiligten bestreiten würde, das Festival vertrete eine Ideologie, oder sei sogar eine politische Plattform, wird die Fragestellung spätestens hier eine politische. Eine Generationenfrage.
Wie man sie auch nennen mag, Generation Maybe, oder Generation Y, die 18- bis 34 Jährigen sehen sich europaweit einem hermeneutischen Streufeuer ausgesetzt. Wer seid ihr? Wie viele gibt es von euch? Was wollt ihr? Warum wehrt ihr euch nicht? Jüngst befeuerte Die Welt diese Debatte mit einem feuilletonistischen Blätterrauschen und diagnostizierte der Generation von 20- bis 30 Jährigen Mutlosigkeit, Planlosigkeit und fehlenden Durchsetzungswillen. Die Hipster-Debatte, die selbst schon zum Klischee geworden ist, fußt auf ähnlichen Annahmen. Der Bohemien sei in der jungen Generation zum Kulturkonsumenten verkommen. Ästhetische Differenzierung meine nur mehr alternativ-ironische Kaufentscheidung. Auch die Politik steht der jungen Generation missmutig gegenüber. Wenn die deutsche Bundeskanzlerin freimütig von alternativlosen Entscheidungen oder der marktkonformen Demokratie spricht, ist das immer auch ein Diktat an die Jugend. Passt euch an! Angesprochen auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der EU, spricht Premierminister Jean-Claude Juncker in der Zeit von „Risiken für den sozialen Frieden“ und schafft es so gekonnt, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Nicht die politische Handlungsunfähigkeit ist ein Risiko, die Jugend ist das Risiko. So fiel es Premier Juncker auch leicht, beim Neujahrempfang der Fedil die Verantwortung auf ein Neues den Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst zu übertragen. Zur Not könne man ja noch die Zumutbarkeitsklausel lockern. Der Premier wäre ein willkommener Gast auf dem diesjährigen Festival gewesen. Er hätte gesehen, wie leicht man die Zumutbarkeitsklausel über Bord werfen kann, wenn eine Sache wichtig erscheint. Wie junge Menschen Initiative zeigen, ohne Schulterklopfer zu erwarten. Dass keiner Partei zuzugehören, keineswegs heißt, apolitisch zu sein. Das konkrete Beispiel zu einem Ideal werden kann. Machen einen Sinn hat. Auch für junge Menschen. Gekommen ist er nicht.
Es ist Dienstag. Zwei Tage nach dem Festival. Ein Gang über das Campinggelände hat etwas von Katastrophentourismus. Zelte wurden verwaist zurückgelassen. Luis baut die Absperrgitter, die er mit aufgebaut hat, wieder ab. Gegen Ende der Woche fährt er zurück nach Murcia. Zurück zu höheren Arbeitslosenzahlen. Der Schlamm ist mittlerweile Schlick. Vereinzelt hängen noch Banderolen. Sie haben ihr Versprechen wohl gehalten. Es gab Food for your Senses. Die Besucherzahlen am Sonntag machen den Veranstaltern Sorgen. Erst in den kommenden Wochen wird sich abzeichnen, wie mehr oder minder schlecht es aussieht. Wie er sich fühlt? Jacques, einer der Mitbegründer des Festivals sagt: „Nie mehr. Nicht in diesem Leben.“ Das sagt er jedes Jahr. Und jedes Jahr kauft er sich die erste Eintrittskarte. Aus Prinzip.