Nach den hitzigen Diskussionen um Europas Migrationskrise blieben Großbritanniens Premierminister David Cameron Ende Juni beim Europäischen Gipfeltreffen in Brüssel nur zehn Minuten, um zu erklären, was Großbritannien an der Europäischen Union nicht gefällt. Neben dem in letzter Minute verhinderten „Grexit“, der katastrophalen Situation im Mittelmeer, wo Tausende Flüchtlinge an den Grenzen Europas umkommen, und der Bedrohung durch den Islamischen Staat, der in Tunesien und Frankreich zuschlug, haben die Reformwünsche der Briten für die EU derzeit nicht die höchste Priorität.
Dass der Tory-Politiker die Debatte um Großbritanniens EU-Mitgliedschaft in diesem Klima vorsichtig angehen muss, weiß Cameron. Er versicherte, seine Sicht auf den Reformprozess, den man zu Hause von ihm erwarte, sei eine „gänzlich positive“: „Ich liefere positive Argumente darüber, wie sich Großbritanniens Beziehung ändern kann, wie Europa sich ändern kann, damit ich positive Argumente über Großbritanniens Verbleib in der EU machen kann“, so der Premier. „Wenn ich das nicht schaffe, schließe ich nichts aus.“ Damit spielte er auf einen möglichen „Brexit“ an, den das Referendum um die Mitgliedschaft, das er den Briten – und vor allem den Euroskeptikern in der eigenen Partei – für das Jahr 2017 versprochen hat, herbeiführen könnte. Bevor die Briten zur Wahl gehen, will Cameron Großbritanniens Mitgliedschaft in Brüssel neu aushandeln, um einen besseren Deal für das Land zu erhalten. Mitgliedstaaten sollen mehr Autonomie erhalten, die Sonderrechte für den Londoner Finanzplatz sollen gesichert werden und arbeitende Migranten in der EU sollen vier Jahre lang keine Staatshilfe wie Kindergeld und Steuervorteile erhalten.
Dies sei nicht mit dem Konzept der in den Verträgen garantierte Freizügigkeit der Arbeitnehmer vereinbar, erklärte dagegen Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments, der sich für eine Vertiefung der Union stark macht. Für Cameron ist das keine Option. „Wir verstehen und respektieren das Recht anderer, dieser Verpflichtung nachgehen zu wollen. Aber für Großbritannien – und vielleicht auch für andere – ist das nicht das Ziel. Und es wäre uns lieber, wenn der Vetrag das ausdrücken würde, so dass die, die schneller und weiter gehen wollen, das auch können und nicht von anderen aufgehalten werden“, wünschte sich Cameron bereits in 2013.
Der Premier selbst ist gegen einen „Brexit“, das hat er öfters betont. Eine mögliche Strategie, um die überaus EU-skeptischen Briten von einem Nein abzuhalten, konnte man in internen Dokumenten, die der Guardian im Juni veröffentlichte, lesen: Demnach setzt Cameron darauf, dass in der Frage um einen Verbleib in der EU „die Leute letztlich dann den Status quo wählen, wenn die Alternativen zu risikoreich erscheinen“. Einen diplomatischen Erfolg kann er vorweisen, denn sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Staatspräsident François Hollande zeigten sich bereit, mit ihm über mögliche Reformen der EU zu diskutieren.
Doch die Probleme in Griechenland und im Mittelmeer werden so bald nicht verschwinden, und die Idee der europäischen Solidarität wurde noch nie so stark getestet wie heute. Großbritannien schneidet dabei recht miserabel ab: Das Land ist nach Ungarn das EU-Mitglied, das, gemessen an seiner Größe, die kleinste Zahl an Flüchtlingen aufgenommen hat. Deutschland und Frankreich nehmen deutlich mehr auf. Weil sich das Flüchtlingsdrama aber mittlerweile vor der eigenen Haustür abspielt, wie derzeit in der französischen Hafenstadt Calais, wo Hunderte Flüchtlingen auf eine Überfahrtgelegenheit nach England hoffen, sucht Cameron eine engere Zusammenarbeit mit Frankreich.
Auch die Solidarität mit Griechenland hält sich in der Downing Street in Grenzen. „Es ist nicht Großbritanniens Rolle, sich an Rettungsschirmen für Mitglieder der Währungsunion zu beteiligen. Wir würden die Probleme der Eurozone, vor denen wir schon immer gewarnt haben, nicht lösen. Das ist eine Angelegenheit der Mitglieder der Währungsunion“, hatte der Premier kurz nach der Einigung zwischen Griechenland und seinen Gläubigern betont. Unterstützung erhält er von den EU-Skeptikern in seiner Partei, für die Eurokrise und die Flüchtlingskatastrophe nur Bestätigung sind, endlich aus der Union auszutreten.
In Brüssel kommt diese harte Haltung gar nicht gut an, schließlich erwartet Großbritannien seinerseits von der Union Flexibilität und Entgegenkommen. Bis jetzt konnte Cameron Parlamentarier in Brüssel und gleichzeitig Euroskeptiker in Westminster einigermaßen überzeugen, in dem er jeder Seite erzählte, was sie gerade von ihm hören wollte. Mit dem sich näher rückenden Referendumstermin und den drängenden Problemen auch vor der britischen Küste wird das nicht mehr lange möglich sein.