Nach den Wahlen letzter Woche ist in der britischen Politik-Landschaft nichts mehr wie es war. Bis zum Tag der Wahlen wurde mit einem Kopf-an-Kopf Rennen zwischen der Labour-Partei und den Konservativen gerechnet, doch das Phänomen der „schüchternen Tories,“ die ihre wahre Wahlabsicht in Umfragen vorenthalten, hat David Cameron zum Alleinherrscher katapultiert – „der süßeste Sieg von allen“, so der Premier. Während die Konservativen ihre absolute Mehrheit feierten, resignierten am Freitag binnen weniger Stunden die Parteichefs der Labour, den Liberaldemokraten und Ukip (Nigel Farage hat in der Zwischenzeit seinen Rücktritt angeblich auf Wunsch seiner Partei wieder zurückgenommen. Er bleibt also Vorsitzender von Ukip). Sie müssen sich nun nach dem Schock neu erfinden.
Die Schottischen Nationalisten (SNP) hingegen erfreuten sich eines Stimmenwunders: Sie gewannen 56 der 59 möglichen Sitze – 2010 waren es nur sechs. Dies ist ein Denkzettel für Labour, deren Führung sich gegen die schottische Unabhängigkeit ausgesprochen hatte, was sich nun bitter rächte. Die linksgerichtete Partei ist somit die dritt-stärkste Partei im Unterhaus: Das Königreich ist gespaltener denn je.
Nicht nur der Erfolg der SNP, der dem Wunsch vieler Schotten nach Unabhängigkeit wieder Antrieb gegeben hat, macht dem alten und neuen Premier Cameron Sorgen. Er darf sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Die absolute Mehrheit, die seine Partei sichern konnte, ist keine große: Mit 331 Sitzen haben die Tories nur wenig mehr als die nötigen 326 Sitze. Rebellionen in den eigenen Parteireihen, zum Beispiel von euroskeptischen Hinterbänklern, Überläufern oder könnten diese Mehrheit in Gefahr bringen. Vor allem aber wird das Referendum über die EU-Mitgliedschaft, das die Tories in ihrem Manifest für das Jahr 2017 versprachen, die Loyalität von Camerons Parteikollegen testen.
Der Premier selbst hat sich stets gegen einen Austritt ausgesprochen, doch der Druck des EU-skeptischen Flügels seiner Partei ist groß. Die Tories sehen sich von Ukip bedroht, denn die rechtspopulistische Partei um Nigel Farage will bereits dieses Jahr ein Referendum, was auch auf die Zustimmung vieler Konservative treffen dürfte. Cameron hatte, so gesehen, keine andere Wahl, als ebenfalls ein Referendum zu versprechen, womöglich gar schon für 2016. Zuvor versprach er, das Verhältnis seines Landes zu Brüssel neu verhandeln.
Mit dem Wahlsieg hat Cameron nun ein wenig Zeit gewonnen, bevor es zur Volksabstimmung kommt. Er hofft, in Brüssel kleine Erfolge zu ergattern, die er hochreden kann, um die Briten so vom „Brexit“ abzubringen. Doch sein Handlungsspielraum ist klein: Die Hauptanliegen der EU-Skeptiker ist die Einwanderung, welche als Teil der europäischen Grundfreiheiten des freien Verkehrs von Personen, Kapital und Dienstleistungen nicht verhandelbar ist. Das haben die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, Europaparlamentspräsident Martin Schulz und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wiederholt unterstrichen. Brüssel muss die Anliegen der Briten jedoch ernst nehmen, nun da das Referendum kommen wird. Wie viel Geduld die EU-Mitgliedstaaten mit Cameron haben werden, der seine Forderungen noch nicht präzisiert hat, ist ungewiss. Großbritannien erfreut sich bereits etlicher Sonderregelungen, wie der Rabatt der Beitragszahlung. Die euroskeptischen Hinterbänkler, die sich ihrer Macht über Cameron bewusst sind, werden sich jedenfalls nicht mit kleinen Zugeständnissen abspeisen lassen.
Londons Finanzdistrikt sieht das Wahlergebnis mit gemischten Gefühlen. Die Reformen von Labour sind zwar vom Tisch, prompt stiegen am Freitag nach dem Wahlergebnis die Kurse am Finanzmarkt. Doch ein „Brexit“ birgt für Großbritannien viele Risiken, befürchtet The City UK, eine Lobbygruppe der Finanzindustrie.
Und wie sieht es die Bevölkerung, die im Referendum die wichtigen Kreuze machen wird? In einer Umfrage von Yougov im Juni vergangenen Jahres waren 36 Prozent der befragten Briten für einen Austritt, 44 Prozent wollten dagegen in der Union bleiben. Dass diese Prognosen nach der Wahl noch zutreffen, ist zu bezweifeln. Dies liegt nicht nur am verlorenen Vertrauen der Meinungsforscher, die mit ihren Wahlprognosen sehr daneben geschlagen haben, sondern auch am Erfolg von Ukip, der Partei, für die ein EU-Austritt das Lebensmotto ist.
Die Partei hat bei den Unterhauswahlen nur einen einzigen Sitz ergattern können, der übrigens überraschenderweise nicht an Nigel Farage, den Bier trinkenden Parteichef, ging. Doch was die absolute Zahl der Stimmen betrifft, ist Ukip ist zur drittgrößten Partei herangewachsen. Im britischen Mehrheitswahlrecht darf nur der Gewinner eines Wahlbezirks nach Westminster. Ukip-Wähler aber sind übers ganze Land verteilt und haben keine traditionellen Hochburgen, wie zum Beispiel Labour und die Tories.
Die 12,6 Prozent für Ukip sind im Parlament also so nicht vertreten, obwohl es sich um die Stimmen von fast vier Millionen Menschen handelt (2010 waren es nur 919,546). Die Wählerschaft der Rechtspopulisten ist demnach nicht zu unterschätzen bei einem EU-Referendum, bei dem jede Stimme zählt. Die Gelegenheit werden sich Ukip-Wähler nicht nehmen lassen. Wenn sich konservative Euroskeptiker aus der Partei des Premiers ihnen anschließen und für einen Austritt entscheiden, könnte Camerons Wahlversprechen ihm doch noch zum Verhängnis werden.