Schade: Leicht verärgert nimmt man dieses solide, sorgfältig gestaltete Buch in die Hand, das zum begrüßenswerten Auftakt-Programm des neuen, ehrgeizigen Verlages ultimomondo in Nospelt gehört - ärgerlich ist diese Cover-Notiz: "der autor verzichtet ganz bewusst auf stilistisches kunsthandwerk." Eine solche platte Abgrenzung hat Roger Manderscheid nicht verdient; er repräsentiert seit Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum das Beste der zeitgenössischen Luxemburger Literatur.
Die Büchermacher hätten sinnvoller auf die Bewertung von Karl Kraus zurückgegriffen: "Es gibt zwei Arten von Schriftstellern, solche, die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele und Leib, bei den zweiten passen Inhalt und Form zusammen wie Leib und Kleid."
Die sieben in diesem Band gesammelten Geschichten aus den letzten sechs Jahren erbringen den Nachweis, dass ihr Verfasser zur ersten Kategorie zählt. In allen Texten stehen Menschen im Mittelpunkt, die eine Lebenskrise erleben, die sich gegen ihre Umwelt behaupten müssen, um ihre Identität ringen oder durch eine außergewöhnliche Verhaltensweise auffällig werden. Die Ich-Erzählung "in der nothaltebucht" zeichnet das Porträt eines Mannes, der, halb Luxemburger, halb Kongolese, durch seine dunkle Hautfarbe von Kind auf Integrationsprobleme in der Euregio (verballhornt "heuregio") hat.
Um sich anzupassen, spielt er verschiedene Rollen durch: die des Schlagersängers, des Jahrmarkt-Muskelprotzes: "ich war ein nationalheld ohne nation, ein grenzüberschreiter, léopold mango, der stärkste mann der euregio." Arbeitslos, vereinsamt, dem Alkohol verfallen hält er in Hassliebe zu seiner provinziellen Heimat, mit Hilfe von "dichten und lügen". Dreisprachich ist Mangos Bewusstsein besetzt; daher streut der Autor hier wie auch in anderen Erzählungen französische und luxemburgische Passagen ein.
"der lette" beschreibt aus der Sicht eines Ehepaares eine gegenläufige Figur: den allmählichen Rückzug eines Nachbarn aus seiner Umwelt, die willentliche Preisgabe menschlicher Beziehungen, den Verkauf allen Besitzes, sein nie aufgeklärtes Verschwinden, schließlich die Andeutung seines Todes. Manderscheid erzielt Spannung durch die dialogisch skizzierten Vermutungen des Paares und verdichtet so das Geheimnis um den "letten": "vielleicht hat er abschied genommen? sagte ich vor mich hin. abschied? lachte meine frau. von was und von wem? - vom leben, vom dasein, vom alltag, sagte ich so dahin."
Einen schrulligen Außenseiter zeichnet die Story "pflastersteine". Solche sammelt einer mit gesteigerter Leidenschaft und nach künstlerisch-ästhetischen Kriterien: "ein höhenrausch erfasst mich. mein herz macht sich bemerkbar, jubelt wie in jungen tagen". Er gibt den Fundstücken Namen, ordnet sie nach Orten und als Höhepunkt seiner "Raffsucht" pflastert er sogar seine Wohnung aus: "auf diese weise hole ich mir ein stück draußen herein." So vermag er der Eintönigkeit seines Bankberufes zu entfliehen. Die Sprache, staccatohaft-hektisch, reißt den Leser in den Sog dieses grotesken Sammlerfiebers.
Mehr für literarische Insider gedacht scheint "die lesung in prag". Im Rahmen einer Autorenbegegnung lernen zwei Luxemburger Schriftsteller eine kuriose Fremdenführerin kennen. Sie hat seit der politischen Wende 1989 aus Verweigerung gegenüber der neuen Zeit enorm an Körperfülle zugenommen und sagt von sich: "bald war es mir eine unerträgliche last meinen neuen, vom kommunismus entleerten und vom kapitalismus bis oben hin gefütterten Körper über bürgersteige und treppen zu gewegen." Geistig bewegter als je zuvor, kommt sie auf die Idee, eine "rollenprosarollstuhlrolle" zu spielen - bis zu welchem Ende sei nicht verraten.
Speziell für die Leserschaft im Großherzogzum muss aber auf die ironischen, böszüngigen Seitenhiebe hingewiesen werden, die sich auf eben dieses beziehen: "bei uns zuhaus, sagen sie, leben alle so, in permanenter imitation des wirklichen lebens, wie es jenseits der grenzen des schmalen landes abläuft, und bis heute ist noch niemand daran gestorben." Die beiden Autoren stellen auch die kritische Frage: "warum hat karl der vierte damals seine karlsuniversität nicht in luxemburg gegründet? auf diese weise hat das land bis heute keine hochschule, obwol im grenznahen brachland jahr für jahr eine neue universität frisch-fröhlich ihre geistigen aktivitäten entfaltet und in der stadt luxemburg stunde um stunde eine neue bank aus dem boden schießt." Lapidare, sarkastische Begründung: "vielleicht deshalb".
Manderscheid lässt den Dichter-Präsidenten Havel seine eigene Meinung äußern: "verschiedene theoretische ausdeutungten kafkas interessierten mich nie besonders, wichtiger war für mich die völlig triviale und irgendwie 'vortheoretische' sicherheit, dass er 'recht' hat und dass 'es genau so ist'." Das dürfte eine Erklärung für die stilistische Sicherheit des Erzählers sein, für seinen unverstellten Blick auf die Wirklichkeit, die Menschen.
Dies bestätigt auch die kaleidoskopisch angelegte Geschichte "warten auf gaudino". Ein sogenanntes "Notizbold" - Ich versucht seine Identität zu behaupten, mittels der Sprache: "ich bau mir neue worte". Mit vielfältigem Perspektivenwechsel und Verweisen auf Zeitbezüge, durch einen artistischen Sprachaufwand ist dies der ehrgeizigste Beitrag. Leider fallen etwas zu glatte Sentenzen und kalauerartige Witzeleien umso bedenklicher auf: "wir nehmen nichts mehr zur kenntnis" oder "sie sind mir ein richtiger filoudendron".
Dass weniger immer noch mehr ist in der Kunst, beweist "der autopilot". Manderscheid konzentriert sich auf einen einzigen, bis ins Absurde gesteigerten Vorgang: Die Fahrsucht eines Mannes, der er alles - Frau, Beruf, sein Leben? - opfert. Letztlich bleibt sein Motiv unerklärt: "vielleicht hat er eine vorliebe für eigene bilder im kopf, die ihm beim autofahren automatisch hochkommen?" - "er hatte nie bestimmte ziele." Flieht er vor sich selber? Aus Langeweile?
Die Titelgeschichte "schwarze engel" bildet einen starken Abschluss des Bandes, der mit dynamisch-bewegten, gespinstartigen und kalligrafischen, an Hieroglyfen erinnernden Zeichnungen auch Manderseheids Doppelbegabung aufzeigt. Es handelt sich um ein reines Dialogstück, in dem der Autor nach Art einer fugalen Engerführung die Liebesbeziehung zweier vom Schicksal Gebeutelten aufbaut. Die besondere Könnerschaft beruht auf der gestischen Andeutung eines früheren Vorfalles, der sie beide betraf und ihr Leben von Grund auf veränderte. Witzige Heiterkeit und schwermütiger Ernst erzeugen einen faszinierenden Schwebezustand: "liebe hat immer mit melancholie zu tun."
Roger Manderscheid: schwarze engel, Geschichten mit 23 Zeichnungen des Autors; Ed. ultimomondo, Nospelt 2001, 115 S., 700 Franken; ISBN 2-919933-00-0