Die literarische Expedition mit Kamera und Kladde - denn nichts anderes ist der Bildband D'Stad Lëtzebuerg von Georges Hausemer und Rob Kieffer - beginnt im südlichen Alzettetal mit einer Kanufahrt auf jenem, etwas "zu breit geratenen Bach", der präraffaelitische Assoziationen bei Georges Hausemer weckt. "Gräser, Farne, Unterwasserpflanzen. Gefährlich wie Schlingen, strähnig und ein bisschen unheimlich wie das Haar einer Frauenleiche", schreibt er.
Ein Leben- und Reichtum spendender Fluss auch, denn hier lagen im vorindustriellem Zeitalter die Gerbereien und Tuchfabriken der lothringischen Familie Godchaux. D'Schleifmillen, in der sich heute eine Künstlerkolonie befindet, ist ein Steinzeuge der Erfolgsgeschichte dieser Unternehmerfamilie, die den Namen eines fremden Landes über seine Grenzen hinaus bekannt machte. Die Godchaux sind nicht die einzigen Zugereisten, die es in ihrer Wahlheimat zu Geld und Ansehen brachten und deren persönliche Biografie eng mit der Landeshistorie verschränkt ist. Zu ihnen gehört - doch jetzt greifen wir in der Bildreise etwas vor - auch der Eisengießer François Boch, der es vorzog, Keramiken anzufertigen statt Kanonenkugeln zu gießen, und dessen Herrenschloss in Septfontaines im Rollingergrund dem weltbekannten Keramikunternehmen heute als Gästehaus dient.
Doch zunächst führt die Kanurundfahrt durch die Vorstädte Grund, Clausen und Pfaffenthal, über die die Frankfurter Zeitung noch Anfang des Jahrhunderts mit sozialkritischem Unterton berichtete: "Seltsam aber ist es, dass man in dieser Unterwelt Dinge zu sehen bekommt, die sich getrost den traurigsten Bildern aus Ostlondon an die Seite stellen lassen. Von jeder Wanderung durch die armen Quartiere im Abgrund kommt man mit Grauen im Herzen zurück." Es wohne hier "ein friedsames Völkchen", meinte dagegen der Vorstadtpfarrer Weis. Und heute? Heute sind die Faubourgs Anlaufstellen für Nachtfalter aller Couleurs und Kulturen: viele Angelsachsen, Touristen, trendiges Jungvolk und einige, übrig gebliebene Bohémiens wie Will Lofy und Moritz Ney. "Heimat der Käuze und Kreativen", wie G. Hausemer zusammenfasst.
Von der phantasiebeflügelnden Unterwelt der Kasematten hinauf in die Oberstadt, zu jenem Platz, "an dem die Ameisenspuren der Flaneure enden" - der Plëss. Einst Waffenplatz und Hinrichtungsstätte, heute Plaza mayor für Sommerfrischler und Studenten. Es ist ein fast schon wehmütig zu nennender Blick, den Georges Hausemer und Rob Kieffer auf "des Städtchens traulichsten Ort" werfen. Denn wo sich einst renommierte Kaffeehäuser befanden, die ewigen "fin de siècle"-Flair versprachen, locken heute Fast food-Läden. Immerhin: zwischen der "Miniwall-Street" des Boulevard Royal und dem naturmusée, einem der modernsten seiner Art weltweit, findet der geneigte Leser Dutzende von Plätzen, Gebäuden und Gassen, die Geschichte atmen und Geschichten erzählen. Die Gëlle Fra, einst als "Pornoplastik" verschrieen, und die abenteuerliche Suche nach der verschollenen und leichtbekleideten Frau gehört zu diesem Anekdotenschatz. Und, noch früher, die Bockfelsensage, derzufolge die Erbauung der Stadt Luxemburg auf einen Blutspakt zwischen Siegfried und dem Leibhaftigen zurückgeht.
Nicht schaurig, aber bunt und exotisch geht es "op der Gare" zu. "Im Bahnhofsviertel leben rund 8000 Menschen, davon knapp über siebzig Prozent Ausländer, mehr als in jedem anderen Stadtviertel. Hauptsächlich Portugiesen, Kapverdier, Afrikaner, Asiaten, Flüchtlinge aus Bosnien und dem Kosovo. Der amerikanische Schriftsteller Henry Miller, der hier mal zu Besuch war, wütete in seinem Buch Stille Tage in Clichy ganz anerkennend über die Amüsiermeile: "Luxemburg ist wie Brooklyn, nur verführerischer und vergiftender."
Rund um den 1858 gebauten Bahnhof gibt es nicht nur eine erstaunliche Vielfalt und Vitalität - "Internationalität auf engstem Raum" - hier laufen auch Lebenslinien zusammen, die anderswo weniger denkbar wären. Zum Beispiel die von Zahra, die jahrelang illegal als Arbeitssklavin in Luxemburg ausgebeutet wurde und sich heute in der 1998 gegründeten Vereinigung Solidarité culturelle Gare-Est engagiert. Zum Beispiel die von Selfmade-Man Guy, dem Diskothekeninhaber, der entwaffnend ehrlich meint: "Wann et eppes gët, wat ech net ausstoe kann, da sin dat haart Musek a vill Leit." Und der ebenso ehrlich begeistert hinzuzfügt: "Es gibt weltweit nur zwei wirklich interessante Städte. Es gibt nichts, was es im Big Apple (New York) nicht gibt. Und es gibt nichts, was in Luxemburg nicht möglich wäre."
Diesen Eindruck hinterläßt auch der Bild- und Textband D'Stad Lëtzebuerg, eine erzählsichere, lebhafte und meisterhaft fotografierte Hommage an eine Stadt, in der Gegensätze nahe beieinander liegen und sich ergänzen. Und das Autorenteam stöbert diesen Wechselseitigkeiten lustvoll und mit viel menschlichem Gespür und sinnlichem Humor nach. Die Modernität des Kirchbergviertels, Architektur gewordene Vision eines zukünftigen Europas, und die mediterrane Behäbigkeit des Fischmarktes, der brieftaubenzüchtende Eisenbahner und die großherzogliche Fotografien sammelnde Idalina, deren Café de la Station im Rollingergrund auch schon im Lëtzebuerger Land vorgestellt wurde, die Skateboard-Kids und der fromme Küster, die Erfolgsstory von Cargolux und der Niedergang der Lichtspielhauskultur, die Marktfrau und die Nationalikonen, die zartgliedrige Restauratorin und der schnautzbärtige Os Lusitanos-Fussballfan, die bauchtanzende Zora aus Algerien und das Skelett des ersten Luxemburgers, die Kleinbühnenkunst in der Altstadtperipherie und der Thoradienst in der Synagoge, die Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Kirche und die Péckvillercher-Schwärme, alles passt, und man weiß nicht recht, wie und warum, zusammen. Und ganz nebenbei, aber wahrscheinlich ist das auch so intendiert, gewinnt die Stadt Luxemburg mit all ihren Charakteren und Kulturen an weltläufiger Kontur. Allen rechts- und linkspopulistischen Ressentiments, allen Vorwürfen der Provinzialität zum Trotz.
Am Ende der Promenade in der Waldschänke Juegdschlass angelangt, wie es sich nach einem ausgedehnten Spaziergang ziemt, möchte man gleich noch einmal mit der Kanufahrt beginnen, die Begegnungen und Gespräche fortführen, die Schritte weiter lenken und sich ziellos verlieren in dieser vertrauten und fremden Stadt.
Georges Hausemer (Text), Rob Kieffer (Fotos): D'Stad Lëtzebuerg, Éditions Binsfeld 2000, Grossformat, 240 S., 394 Farbbilder, Leinenband mit Schutzumschlag und Schuber, 3975 Franken. Deutsche, französische und englische Ausgabe.