Das war eine angenehme Überraschung. Eisenbahnbenutzer, die am Freitag vergangener Woche gegen acht Uhr morgens am Haltepunkt Berchem den Zug nach Luxemburg-Stadt nehmen wollten, stellten fest, dass der schon am Bahnsteig auf sie wartete. Drinnen im Zug aber herrschte eine weniger gehobene Stimmung. Die Erklärung dafür lieferte der Schaffner, der sich „für die Verspätung“ entschuldigte. Das hatte er schon ein paar Mal tun müssen. Denn es war nicht der 8.03-Uhr-Zug, der um acht in Berchem abfahrbereit stand, sondern der von 7.33 Uhr. Da hatte, wer aus Esch/Alzette kam, schon eine Dreiviertelstunde Abenteuer des Schienenstranges hinter sich.
Hat die Bahn ein Pünktlichkeitsproblem? – Dass dem so sein könnte, drängt sich schon beim Besuch der CFL-Homepage auf. Fünf große Baustellen mit planmäßigen Verkehrsbeeinträchtigungen sind dort allein für die nächsten Tage aufgelistet: Auf der Nordstrecke gilt bis einschließlich Montag Schienenersatzverkehr zwischen Luxemburg und Dommeldingen. Richtung Wasserbillig werden bis einschließlich Dienstag alle Züge über Alzingen und Syren umgeleitet, täglich fallen zwei Züge ganz aus. Zwischen Luxemburg und Petingen fahren in der Nacht von Samstag auf Sonntag Busse statt Züge; das gleiche gilt ab heute und bis Montag jeweils nachts zwischen Luxemburg und Arlon. Und noch bis zum Montag fallen zwischen Luxemburg und Bettemburg täglich fünf Züge aus, zwischen Bettemburg und Düdelingen fahren Busse. Die Reisenden werden gebeten, stets mit Verspätungen zu rechnen.
Schon heute ist klar, dass die Zahl der großen Baustellen so schnell nicht abnehmen wird. Nach den Sommerferien beginnt der Bau des zweiten Eisenbahnviadukts bei Pulvermühle, im Herbst die Instandsetzung des Viadukts in Esch/Alzette. Wenn 2012 die Strecke über Dippach nach Petingen zweigleisig ausgebaut sein wird, beginnt mit Hochdruck der Ausbau der Strecke nach Arlon von derzeit 130 km/h auf künftig 160 km/h Höchstgeschwindigkeit – Luxemburgs Beitrag zum Projekt Eurocaprail zur Verkürzung der Fahrzeit nach Brüssel. Die Neubaustrecke Luxemburg-Bettemburg, die ebenfalls irgendwann in den nächsten Jahren in Angriff genommen werden soll, entsteht zum Glück überwiegend auf der grünen Wiese entlang der Autobahn.
Die planmäßigen Baustellen sind jedoch nur ein Teil des Problems. Vielleicht nicht mal der größte. „An den Baustellen“, sagt CFL-Generaldirektor Alex Kremer im Land-Gespräch, „wird vor allem nachts und während der Schulferien gearbeitet“. Also auch in den Osterferien. Nicht geplant sind dagegen all die Zwischenfälle, über die die CFL seit ein paar Wochen die Medien per E-Mail informieren. Meist sind Schranken und Sicherheitseinrichtungen gestört. In den letzten 21 Tagen kam das elf Mal vor, fast immer im Berufsverkehr. Unter anderem auch am Freitag vergangener Woche, als in den Morgenstunden zwischen Esch und Noertzingen fast drei Stunden lang ein Signal defekt war.
Sanierungs- und erweiterungsbedürftige Strecken, störanfällige Technik: Anfang des 21. Jahrhunderts erleiden die CFL die Spätfolgen der jahrzehntelangen Vernachlässigung ihrer Infrastruktur durch die Politik. Weite Teile des Bahnnetzes befinden sich technisch auf dem Stand der 1950-er Jahre. Hinzu kommen derzeit Probleme mit dem „Rollmaterial“. Für die Transportgewerkschaft FCPT-Syprolux wiegen sie sogar noch schwerer als die Baustellen: An den aus Deutschland neu eingekauften Doppelstockwaggons sei der Antrieb zur Türbetätigung derart unzuverlässig, dass in nur einer Schicht schon mal drei Züge mit neuen Waggons bestückt werden müssten, sagt Jean-Paul Schmitz, Vizepräsident des Syprolux. „Selbst wenn das nur fünf, sechs Minuten dauert, kommt dadurch auf einer Strecke alles durcheinander.“ Weil Schmitz in einem Stellwerk arbeitet, weiß er aus eigener Erfahrung, wovon er spricht: In den Stellwerken laufen die Störungsmeldungen zusammen, dort werden Verspätungsanzeigen in den Bahnhöfen ausgelöst und Lautsprecherdurchsagen für die Bahnsteige gemacht.
Trotz der vielen Probleme stieg in den letzten zehn Jahren das im Binnenverkehr beförderte Passagiervolumen um rund 50 Prozent; das Angebot wuchs mit. Dass Störungen auf der Südstrecke besonders häufig sind, liegt nicht zuletzt daran, dass die Strecke Luxemburg-Bettemburg schon überlastet war, ehe die Grenzpendlerverbindungen nach Lothringen beträchtlich verstärkt wurden und mit dem Winterfahrplan 2011 zwischen Luxemburg, Esch/Alzette und Rodange vom Halbstunden- auf den Viertelstundentakt gewechselt wurde. „Wie kommt ihr da bloß durch?“, würden die Kollegen von der SNCF immer wieder fragen, sagt CFL-Chef Kremer. Ja, wie? „Indem wir notfalls Züge ausfallen lassen, damit eine Verspätung nicht lawinenartig um sich greift.“ Dass es eine politische Entscheidung war, im Süden den Viertelstundentakt einzuführen, würde der Bahnchef natürlich nie erwähnen, dazu ist er viel zu loyal gegenüber seinem Minister. Stattdessen sagt er: „Wir haben unser Angebot immer der Nachfrage angepasst und werden jetzt ein wenig Opfer unseres eigenen Erfolges.“
Damit aber berührt Kremer einen wichtigen Punkt: die Opferrolle. Dass die Bahn Gefahr läuft, sich in dieser Rolle einzurichten, darauf deutet manches hin.
Womöglich war es nicht hilfreich, dass CFL und Regierung in der 2009 unterzeichneten Neuauflage der Konvention über den service public im schienengebundenen öffentlichen Verkehr festhielten, dass künftig nur Verspätungen ab sechs Minuten als solche gelten sollten. Vorher ging die Bahn mit sich selber strenger um. Auf der CFL-Homepage findet man noch die Meldung, im Jahr 2007 seien im Binnenverkehr 82 Prozent der Züge höchstens zwei Minuten zu spät an ihrem Bestimmungsort angekommen. Im Jahr 2010 waren 88,8 Prozent der Inlands-Züge „pünktlich“, bilanzierte der zuständige Minister Claude Wiseler (CSV) vor zwei Wochen in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage. In anderen Worten: Sie konnten theoretisch alle bis zu fünf Minuten verspätet gewesen sein.
Das findet nicht nur Laure Simon, die beim Mouvement écologique für Mobilitätsfragen verantwortlich ist, „schlimm für Bahnbenutzer, die einen Anschluss an einen anderen Zug oder einen Bus erreichen müssen“. Auch der CFL-Chef räumt ein, wenn es darum geht, einen Anschluss zu erreichen, seien „zwei Minuten Verspätung etwas anderes als fünf Minuten“. Den davon Betroffenen kann er allerdings nur raten, auf den nächsten Zug zu warten. Die Taktfolgen im CFL-Netz seien „dicht“, fünf Minuten Verspätung deshalb „tragbar“.
Gut möglich, dass Alex Kremer das auch sagt, um sich schützend vor die Eisenbahner zu stellen: Der CFL-Generaldirektor gilt nicht nur als gegenüber seinem Minister stets loyal, sondern ebenso gegenüber seiner Belegschaft. Doch solche Erklärungen nähren Zweifel, ob die CFL intensiv an dem arbeiten werden, worauf es ankäme, um bei der Lage der Dinge keine Kunden zu verlieren: an der Kommunikation mit dem Kunden. Wie Minister Wiseler vor zwei Wochen meinte, nur „theoretisch“ würden die Bahnbenutzer früh und umfassend genug über Verspätungen informiert, kann auch der Bahnchef dies „nicht garantieren“.
Wie schnell sich das ändern soll, kann er jedoch ebenfalls nicht sagen. Während die Bahn einerseits immer komplexere Probleme in Netz und Fahrbetrieb zu bewältigen hat und ihr Management es in letzter Zeit nur in die Medien schafft, wenn Meldungen über angeblich geplante Fahrkartenschalter-Schließungen zu dementieren sind, gibt es andererseits zumindest gegenwärtig kein Konzept mit Erfüllungsfristen zur Bestückung sämtlicher Haltepunkte und Bahnhöfe mit elektronischen Anzeigen. Für zuverlässige Lautsprecherdurchsagen zu sorgen, ist offenbar gleichfalls nicht trivial: Zwar ist in den Hauptstellwerken zwischen 5 und 21 Uhr ein Mitarbeiter eigens für die Information der Reisenden zuständig. Der Kompetenzbereich eines Hauptstellwerks aber kann sehr groß sein; der des Nord-Stellwerks in Ettelbrück zum Beispiel reicht von Dommeldingen bis Ulflingen – alle Durchsagen inklusive. „Doch bei einem Zwischenfall gilt die Hauptsorge aller im Stellwerk der Sicherheit auf der Strecke“, sagt Stellwerker und Syvicol-Vizepräsident Schmitz. „Gerade dann ist für Durchsagen oft keine Zeit, oder die Fahrdienstleiter schaffen es nicht, den Kollegen am Mikrofon mit allen Informationen zu versorgen.“ Wer das ändern wollte, müsse schon beinah die Abläufe in Stellwerken und Fahrbetrieb „neu denken“.
Vielleicht beschäftigt sich damit ja jene Arbeitsgruppe, die bei der Bahn eingerichtet wurde, um, wie der Minister es ausgedrückt hat, „interne Prozesse neu zu definieren“. „Wir arbeiten daran“, sagt Alex Kremer. Und betont, seit Mitte der Neunzigerjahre schon seien die Zeiten vorbei, da die vormalige Staatsverwaltung CFL den Reisenden „fast als notwendiges Übel“ angesehen habe. Doch wie die Reisenden diese Entwicklung einschätzen, weiß der Bahnchef nicht so richtig. Der Frage, wie sich die Reklamatio-nen über Verspätungen und mangelnde Kommunikation entwickelt hätten, entgegnet er nur: „Es ist besser geworden.“ Und als er dann zu bedenken gibt, „dass früher schon deshalb relativ wenig Beanstandungen kamen, weil kaum jemand mehr Zug fuhr“ – da nähert er sich wieder dieser gefährlichen Opferrolle, vor der die Bahn sich hüten sollte.