Under Pressure Serge Ecker steht unter Druck. Bei der Europäischen Kulturhauptstadt Esch 2022 ist der 39-jährige Künstler einer der Hauptprotagonist/innen. An gleich vier Projekten ist er beteiligt. In Düdelingen arbeitet er als Mitglied des D-Kollektivs an der Renovierung der Industriegebäude Bâtiment Vestiaire und Hall Wagonnage mit. Unter der „Schirmherrschaft“ der Gemeindeverwaltung und der Œuvre Nationale de Secours Grande-Duchesse Charlotte entsteht auf der Brache an der Grenze zu Frankreich die erste permanente Besiedelung des zukünftigen Stadtviertels Nei Schmelz. Bürger/innen, Studierende und Vereine beteiligen sich aktiv und ehrenamtlich an dem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Projekt. In Beles, in der Gemeinde Sanem, soll Ecker mit anderen Mitgliedern des D-Kollektivs einen Eisenerzbrecher nachbauen. Ein Vertrag wurde dafür noch nicht unterzeichnet. Sein Herzensprojekt wird der gebürtige Kayler in seiner Heimatgemeinde umsetzen. Am Computer ausgearbeitete und von der Fonderie Massard gegossene 3-D-Modelle, die die kahlen Tagebaugebiete abbilden, bevor die Natur sie zurückerobert hat, wird er entlang des Radweges von Kayl über Tetingen nach Rümelingen aufstellen. Nicht zuletzt plant Ecker mit dem litauischen Bildhauer Algimantas Šlapikas am Flying Cepelinai. Cepelinai ist ein mit Fleisch gefüllter Kartoffelkloß. Von der Form her erinnert das litauische Nationalgericht an einen Zeppelin, dem es auch seinen Namen verdankt. Als solcher soll ein Cepelinai am 1. Juli 2022 über der anderen Kulturhauptstadt Kaunas in den Himmel aufsteigen. Bis dahin steht Serge Ecker noch eine Menge Arbeit bevor. „Wir sind alle mindestens ein Jahr in Verzug“, sagt der Bildhauer und Installationskünstler.
Der Zeitdruck ist eines der größten Probleme der Europäischen Kulturhauptstadt Esch 2022. Die Verspätung war entstanden, kurz nachdem die EU-Kommission im Herbst 2017 Esch/Alzette und der Südregion den Titel verliehen hatte. Nach dem politischen Wechsel in der Minettmetropole hatte die neue Koalition aus CSV, DP und Grünen die beiden noch von der LSAP ernannten Koordinator/innen als nicht geeignet empfunden und abgesetzt. Es dauerte Monate, bis eine neue Leitung gefunden wurde. Diese verwarf die Projekte im Bewerbungsbuch und startete im Februar einen neuen Aufruf. Sie beschloss, dass Projekte nur noch maximal zur Hälfte von Esch 2022 finanziert werden. Im Gegenzug brauchten zehn der elf Südgemeinden sich nicht mehr an der Gesamtfinanzierung zu beteiligen, sondern nur noch an den auf ihrem Gebiet geplanten Projekten. Die Jury ließ sich Zeit bei der Auswahl, erst vor einem Jahr wurden von 600 eingereichten Dossiers 132 zurückbehalten. Viele Projektträger/innen hatten sich schon vor der Entscheidung der Jury zurückgezogen, weil die Zeit ihnen zu knapp wurde. Ende Februar dieses Jahres hatte Radio 100,7 berichtet, dass es Probleme mit den Verträgen gebe. Erst 20 der 132 Konventionen zwischen Projektträgern und Esch 2022 waren zu dem Zeitpunkt unterzeichnet. In dieser Hinsicht habe sich in den vergangenen Monaten etwas getan, lässt die Verwaltung der Kulturhauptstadt mitteilen, doch wie viele Konventionen inzwischen tatsächlich abgeschlossen wurden, will sie auf Land-Nachfrage nicht verraten. Ein künstlerisches Programm wurde bislang nicht vorgestellt, das soll anlässlich eines internationalen Pressetages am 28. Oktober nachgeholt werden. Bereits Ende September beginnt das Remix-Festival mit Rundtischgesprächen, Workshops und ersten Aufführungen, ein Vorlauf für die offizielle Eröffnung Ende Februar 2022.
Weiterer Zeitdruck entsteht durch Genehmigungen, die insbesondere Künstler/innen sich besorgen müssen, die Projekte auf mit Schwermetallen oder anderen Substanzen belasteten Brachen oder in Industriegebäuden umsetzen. Für die Umweltverwaltung und andere Behörden sei die Kulturhauptstadt kein Grund, die Prozeduren zu beschleunigen, heißt es aus Künstler/innen-Kreisen. Nicht zuletzt war wegen des Baustopps im Lockdown die Frage aufgekommen, ob die Renovierung der als Hauptattraktion geltenden Möllerei in Belval rechtzeitig fertig werden wird. „Ja, alles läuft nach Plan“, bestätigt ein Sprecher von Esch 2022 dem Land und es klingt wie eine Paraphrase des Satzes „Alles leeft normal“, mit dem der linke Escher Künstler Théid Johanns seit einiger Zeit lakonisch und nicht ganz unironisch Medienberichte über Esch 2022 auf Facebook kommentiert.
Pas évident Im Espace Lavandier am Escher Boulevard Prince Henri wird noch fleißig gewerkelt. Eine Baufirma muss die Treppenstufen streichen, während die andere sie benutzen muss, um in den ersten Stock zu gelangen. Es gibt kurz Streit. „C’est pas évident“, sagt der Sicherheitsagent am Eingang. Auch hier drängt die Zeit. Am 2. Oktober soll die Konschthal offiziell eröffnen. Die „immersiven Räume ohne Ausgang“ des deutschen Künstlers Gregor Schneider befinden sich bereits im Aufbau. Im Untergeschoss sollen vor dem rezenten Hochwasser gerettete Skulpturen von Martine Feipel, Jean Béchameil und Su-Mei Tse gezeigt werden, zusammen mit Büchern des internationalen Kunstverlags Sternberg Press, der seit kurzem in der Konschthal ein Lager hat und von dort aus nach ganz Europa versendet. Die Stadt Esch hatte das frühere Möbelhaus vergangenes Jahr für 11,6 Millionen Euro gekauft, weitere zwei Millionen fließen in Umbau und Verwaltung. Ab Januar sollen 70 Prozent der 2 400 Quadratmeter Gesamtfläche genutzt werden können. Im Juni 2022 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein, erzählt ein gestresster Christian Mosar. Der ehemalige künstlerische Leiter von Esch 2022 ist heute Kurator der Konschthal (und des Bridderhaus) im Auftrag der Fresh asbl. Die Stadt Esch hatte diese Vereinigung vor über zwei Jahren gegründet, um 2022 ein eigenes Programm anbieten zu können, das sich offiziell als komplementär zu den Veranstaltungen der Europäischen Kulturhauptstadt versteht. Neben Konschthal und Bridderhaus verwaltet Fresh auch das improvisierte Bâtiment 4 am Eingang der Industriebrache Esch-Schifflingen. Esch 2022 selbst organisiert nur wenige Projekte im Escher Stadtzentrum. Viele wurden abgelehnt, lediglich die öffentlichen Einrichtungen Stadttheater und Kulturfabrik, die mehrere Einreichungen bei Esch 2022 aus Zeitgründen wieder zurückgezogen hat, beteiligen sich noch. Die meisten ihrer Veranstaltungen haben aber nur indirekt Bezug zur Kulturhauptstadt.
2021 investiert die Stadt Esch fast 20 Millionen Euro in die Kultur. 2022 dürfte der Betrag nicht geringer ausfallen. Am Budget der Europäischen Kulturhauptstadt beteiligt Esch/Alzette sich mit 10,1 Millionen Euro. Die Hauptlast trägt mit 40 Millionen Euro der Staat, der weitere 35 Millionen Euro für den Umbau der Möllerei zur Verfügung stellt. Die restlichen drei Millionen (vor Corona waren es noch fünf Millionen) sollten eigentlich von privaten Sponsoren kommen, doch die Suche nach Partner/innen gestaltet sich trotz „verlockender“ Angebote (vgl. d’Land vom 09.04.2021) schwierig. Den Main Sponsor, falls es ihn schon gibt, will Esch 2022 erst Ende Oktober bekannt geben, neue Supporting Partner (außer den fünf, die bereits vor Monaten vorgestellt wurden) konnte man bislang nicht auftreiben. Für eine Medienpartnerschaft sei man noch in Gesprächen „mit verschiedenen Verlagsgruppen in Luxemburg und Frankreich“, heißt es auf Nachfrage. Am 25. Oktober findet in Brüssel das letzte von drei Monitoring-Treffen mit der EU-Kommission statt, wo darüber entschieden wird, ob Esch 2022 den mit 1,5 Millionen Euro dotierten Melina-Mercouri-Preis erhält, der in der Haushaltsvorlage bereits fest eingeplant ist. Sollte es den Verantwortlichen der Kulturhauptstadt nicht gelingen, die drei Millionen Euro an privaten Sponsorengeldern aufzutreiben, müssten im Gesamtbudget „verschiedene Posten im Bereich Kommunikation und Medien“ reduziert und angepasst werden; Kunstprojekte würden aber nicht gestrichen, betont ein Sprecher gegenüber dem Land. Dass Esch 2022 in den vergangenen Monaten eigenen Angaben zufolge 450 ehrenamtliche „Unterstützer“ rekrutiert hat, kann da nicht schaden.
Lediglich zum Business for Culture Club, der kleine und mittelständische Unternehmen aus der Region versammelt, die keinen finanziellen Beitrag leisten müssen, liefert Esch 2022 konkrete Zahlen. 54 Firmen aus der Großregion hätten sich inzwischen eingeschrieben, Werbespots mit Geschäftsleuten kursieren bereits in den sozialen Netzwerken, wo Esch 2022 bislang weniger mit Kunst als mit Kommerz wirbt. Unter Kommerz fällt auch die am Donnerstag vorgestellte Tourismus-Strategie, die die grenzüberschreitende und postindustr-ielle Minett-Region als Eldorado für Kultur-Reisende aus aller Welt anpreist. Dass manche der seit 2020 als Unesco-Biosphärenreservat ausgewiesenen Gebiete nichts weiter als mit giftigen Substanzen belastete Müll- und Schlackenhalden sind, auf denen sich in den vergangenen 40 Jahren ein paar Bäume und Sträucher ausgebreitet haben, wird nicht erwähnt.
Ausverkauf I am esch twenty too heißt eine gemeinnützige Vereinigung, die Ende 2020 von dem Jura-Studenten Alpha Muyizere und dem Besitzer des Escher Plattenladens Vinyl Harvest, Claudio Caruso, mit gegründet wurde. Sie verzichtet auf öffentliche Unterstützung, um „unabhängig“ zu bleiben. Die Anspielung auf Esch 2022 ist zwar bewusst gewählt, doch I am esch twenty too sieht sich weniger als offensive Protestaktion, denn als alternatives und komplementäres Projekt zur Kulturhauptstadt. Man erkenne in Esch 2022 eine Chance für die Region und wolle den internationalen Fokus nutzen, ohne aber in eine Konsumlogik zu verfallen, erklärt Muyizere. Ziel von I am esch twenty too ist es, noch weitgehend unbekannte Künstler/innen zu fördern und ihnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Ob sie aus Luxemburg oder einem anderen Land stammen, ist dabei zweitrangig. Die Asbl. bietet Musiker/innen, Bildhauer/innen, Maler/innen oder Konzeptkünstler/innen die Möglichkeit, ihre Performances im Rahmen von Recording-Sessions aufzunehmen. Der Plattenladen kann außerhalb der Öffnungszeiten zu einem (Ton-)Studio umfunktioniert werden, neben einer analogen Bandmaschine und einem professionellen Mischpult steht eine Kamera für visuelle Aufnahmen zur Verfügung. Publikum ist generell erlaubt, doch es herrscht keine Konzertatmosphäre. Auf einer Online-Plattform können die Bands oder Künstler/innen anschließend Ausschnitte ihrer Auftritte veröffentlichen und mit einem Aufruf zum Crowdfunding versehen. Damit es zu einer Veröffentlichung kommt, müssen genügend Fans das Projekt unterstützen. Auf diese Weise will I am esch twenty too das Publikum mit in die Verantwortung nehmen und einen libertären Gegenentwurf zur öffentlich subventionierten Konsumkultur schaffen. Der Konsumwert solle durch das Engagement für eine gemeinsame Sache gesenkt werden, erläutert Caruso. Mit Jambal ft. Culture the Kid, dem Daniel Migliosi Quintett und The Mocks haben bereits drei Bands im Vinyl Harvest aufgenommen. Ob das Konzept funktioniert und die Aufnahmen veröffentlicht werden, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.
Insbesondere in größeren Kulturhauptstädten ist es nicht unüblich, dass sich gegenkulturelle Initiativen bilden, die einen antikapitalistischen Alternativentwurf zu der kommerziellen Großveranstaltung zeichnen wollen. In der einst stark subkulturell geprägten Minett-Region hat sich mit Ausnahme von I am esch twenty too bislang keine solche Aktionsgruppe manifestiert. Sogar das ansonsten so kulturkritische Kollektiv Richtung 22 tritt als Projektträger/in von Esch 2022 auf. Dass die Europäische Kulturhauptstadt trotz ihrer geradezu gigantischen kommerziellen Dimension so viele (zumindest halbwegs) etablierte, doch bevorzugt sozialkritisch auftretende Künstler/innen aus Luxemburg und dem Ausland anzieht, liegt wohl einerseits an der großzügigen finanziellen Unterstützung durch Staat und Gemeinden, andererseits an der Plattform, die Esch 2022 ihnen bietet, um sich und ihre Werke einem noch breiteren und internationaleren Publikum zugänglich zu machen. Serge Ecker, der durchaus als engagierter Künstler gilt, erkennt darin keinen Widerspruch. Mit seiner Kunst will er gesellschaftliche Fragen und Ideen aufwerfen, ohne „moralisch zu predigen“. Er begrüßt es, dass durch Esch 2022 nun endlich die lange Zeit vernachlässigte Industriekultur wertgeschätzt und die Geschichte der Eisenerz-Verarbeitung gefördert werden. Es sei gut, dass die Minett-Region als interessante Gegend dargestellt werde. Serge Ecker weiß aber auch, dass der inzwischen auf Logos und T-Shirts prangende Mineur – einst Stolz der Luxemburger Arbeiterklasse und (männliches) Sinnbild des Sozialkampfes – durch diese Entwicklung immer weiter zu einer folkloristischen Werbefigur degradiert wird.