Nicht ohne vorwurfsvollen Ton wird immer wieder erklärt, dass in Luxemburg der Ruhestand besonders früh angetreten werde. Zuletzt vom Premier: In seinem RTL-Neujahrsinterview sagte Luc Frieden, „im Ausland arbeiten die Leute bis 65 oder 67, bei uns nur bis 60“. Und dass er „eine Antwort“ darauf haben wolle, warum hierzulande „zwischen 57 und 64 viel weniger Leute arbeiten als im Ausland“.
Ähnlich hatte sich vergangenen Sommer der Unternehmerdachverband UEL in seinem Beitrag zum Rentenbericht des Wirtschafts- und Sozialrats geäußert und OECD-Daten von 2022 zitiert: Mit 60,5 Jahren sei das tatsächliche Renteneintrittsalter hierzulande „tout simplement le plus faible de tous les pays de l’OCDE“.
Dass das so sein kann, verwundert nicht: In Luxemburg ist die Beitragszeit ausschlaggebend. Eine vorgezogene Altersrente kann mit 57 antreten, wer 40 Jahre lang Rentenbeiträge entrichtet hat oder „Ersatzzeiten“ vorweisen kann, womit vor allem Babyjahre gemeint sind. Mit 60 in Rente gehen kann, wer mit „Ergänzungszeiten“ auf 40 Beitragsjahre kommt. Eine Ergänzug kann zum Beispiel ein nachträglicher Kauf von Rentenrechten sein, aber auch Ausbildungsjahre werden angerechnet. Mit dem Unterschied, dass Letztere nicht als Beitrag zur Rentenkasse gelten, sondern nur erlauben, die 40 Jahre Anwartschaft zu erfüllen, um vor 65 aus dem Arbeitsleben ausscheiden zu dürfen.
Weil die beruflich Aktiven hierzulande eine sehr bunte Gemeinschaft bilden, verwundert ebenfalls nicht, dass Beitragsdauer und Renteneintritt individuell sehr verschieden sind. Wie verschieden, hat die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) untersucht1. Resultat: Die in den Jahren 2011 bis 2023 im Allgemeinen Regime des Privatsektors jeweils neu Pensionierten – 81 160 Personen waren das insgesamt –, gingen im Schnitt mit 61,2 Jahren in den Ruhestand. Dabei nach, ebenfalls im Schnitt, 39,9 Jahren aus Beiträgen, Ersatz oder Ergänzung. Offenbar wird die Rente angetreten, sobald das möglich ist.
Wieso auch nicht? Doch „möglich sein“, ist nicht das einzige Kriterium. Schon gar nicht in der hierzulande bunten Beschäftigten-Population aus Stacklëtzebuerger, Zugewanderten und Grenzpendler/innen. Beruf und Karriere spielen ebenfalls eine Rolle. Und ob die Rente hoch genug sein wird, um sich erlauben zu können, zu gehen, sobald das möglich ist.
Mit 65 pensioniert wurde nur ein Viertel der rund 81 000 Personen in den 13 Jahren von 2011 bis 2023. Fast genauso viele (24%) gingen mit 60 in Rente, 14,5 Prozent mit 57. Betrachtet man die Lebensjahre dazwischen mit, gingen rund 27 Prozent vor 60 und 48 Prozent zwischen 60 und 64.
Doch das sind Durchschnittswerte. Über die 13 Jahre hinweg, die die IGSS untersucht hat, gab es einige deutliche Änderungen. Waren zum Beispiel unter den 2011 neu Pensionierten 16,4 Prozent mit 57 aus dem Arbeitsleben ausgeschieden, lag dieser Anteil 2023 nur noch bei 9,8 Prozent. Arbeiter, die mit 17 in die Rentenkasse einzuzahlen beginnen – die Pensionen im öffentlichen Sektor hat die IGSS nicht untersucht –, gibt es demnach immer weniger. Tendenziell ebenfalls rückläufig ist der Anteil der mit 65 Pensionierten: 2012 lag er bei fast einem Drittel, 2023 bei einem Viertel, 2021 und 2022 noch ein Stück darunter. Zugenommen hat dagegen der Anteil der „Zwischenjahre“, am augenfälligsten die Pensionierungen mit 64. 2011 machten sie nur zwei Prozent aus, 2022 mehr als fünf.
Sechs von zehn der neu Pensionierten beziehen eine pension migratoire, haben also nur zum Teil in Luxemburg Rentenbeiträge entrichtet, den Rest in mindestens einem anderen Land. Dass dort andere Altersgrenzen gelten und andere Rentenbezüge, beeinflusst die Entscheidungen, ob eine Luxemburger Rente tatsächlich angetreten wird, sobald die geltenden Fristen das erlauben. Aus dem IGGS-Bericht geht das deutlich hervor: Über alles nahmen 31 Prozent der neu Pensionierten ihre Rente, sobald sie die Bedingungen erfüllten, vor 65 gehen zu können. Das taten aber nur 18 Prozent mit pension migratoire und 17,6 Prozent, die zuletzt frontaliers gewesen waren. Dagegen 44 Prozent der in Luxemburg Ansässigen und 50 Prozent aller Personen, die nur in die Luxemburger Rentenkasse eingezahlt hatte. Bei Letzteren ist der Anteil der Männer (54%) deutlich höher als der der Frauen (45%). Überhaupt gehen Frauen später in eine vorgezogene Rente als Männer, Erstere im Schnitt mit 60,9 Jahren, Letztere mit 61,7. Und während ein Drittel der pensionierten Frauen bis 65 im Arbeitsleben verblieb, bleib nur ein Fünftel der Männer. Der gender pension gap lässt grüßen.
Wie vielfältig Beitragskarrieren in verschiedenen Ländern sein können und welches Abwägen es geben könnte, doch noch ein paar Jahre länger als eigentlich nötig in Luxemburg zu arbeiten, um die Rente aufzubessern, deutet die feinere Betrachtung im IGSS-Bericht an: Nach einer eigentlich kompletten Beitragskarriere in Luxemburg, nach der eine vorgezogene Rente hätte angetreten werden können, blieben immerhin 23,5 Prozent doch noch berufstätig, 16 Prozent sogar bis 65. Aktive mit ausschließlich Luxemburger Rente entschieden mitunter auch so. Mit 28 Prozent blieb mehr als ein Viertel von ihnen länger aktiv, als eigentlich nötig. Bemerkenswert ist auch, dass von jenen, die theoretisch schon mit 57 in Rente hätten gehen können, 4,6 Prozent bis 65 im Arbeitsleben blieben. 873 Personen waren das.
Dass solche Entscheidungen getroffen werden, weil das einen Zugewinn erlaubt, liegt natürlich nahe. Welche Mechanismen dabei wirken könnten, gibt der IGSS-Bericht nur ungefähr an. Er informiert zunächst, dass für die Gruppe jener rund 24 000 Personen, die eine vorgezogene Rente sofort in Anspruch nahmen, nachdem sie die Bedingungen erfüllten, der Medianbetrag der Altersrente bei 3 796 Euro liegt. Für die etwa 20 000 Personen, die den Renteneintritt verschoben, liegt der Median bei 2 790 Euro. In dieser Gruppe werden im untersten Dezil höchstens 1 000 Euro monatliche Rente erreicht (zu der bei pensions migratoires noch eine ausländische Rente unbestimmter Höhe kommt), im obersten Dezil allerdings eine Rente, die mit fast 7 000 Euro an die 600 Euro höher liegt als die im obersten Dezil der Pensionierten-Gruppe, in der der Ruhestand sofort angetreten wurde.
Etwas mehr Aufschluss liefert eine Betrachtung der Einkommenslage der Pensionierten auf der Ebene ihrer Haushalte, die die IGSS anhand von Mikrodaten nachzuvollziehen versuchte. Ihr Bericht vergleicht die Haushalte pro Quintil über drei Jahre: im Jahr vor der Pensionierung des Haushaltsvorstands mit Rente (N-1); im Jahr, als die Pensionierung erfolgte (N); sowie im ersten Jahr, das komplett in Rente verbracht wurde (N+1).
Über alle Pensionierten betrachtet, wandert nur im obersten (fünften) Quintil ein nennenswerter Anteil zwischen den Jahren N-1 und N+1 ins vierte Quintil, verschlechterte der Pensionseintritt also das Lebensniveau (berechnet nach Eurostat-Standards und gewichtet nach Haushaltsmitgliedern). Ähnlich wirkt sich die Pensionierung in der Gruppe jener aus, die sofort, als das möglich war, in Rente gingen: Man kann daraus auch schließen, dass sich für sie kein trade-off zwischen einem Gewinn an im Ruhestand verbrachten Jahren und einer vielleicht zu kleinen Rente aufdrängte.
Dagegen führte in der Gruppe derer, die berufstätig blieben, um ihre Rente aufzubessern, die Pensionierung in allen Quintilen oberhalb dem mit der kleinsten Rente zu einem deutlichen Verlust und einer Wanderung ins nächstkleinere Quintil zwischen den Jahren N-1 und N+1. Inwieweit Bezüge aus ausländischen Kassen das für die in dieser Gruppe häufigen pensions migratoires kompensieren, ist unbekannt. Womöglich aber reichen sie nicht weit.
In ihrer Schlussfolgerung spricht die IGSS von einem „impact limité“, den die Pensionierung auf die Einkommensverteilung in Quintilen habe. Man kann es auch so ausdrücken, dass die beruflich Aktiven sich das Optimum zwischen Rentenhöhe und Jahren im Ruhestand suchen und die Politik am besten die Finger lassen sollte von den Alterskriterien, wie sie sind.
Vermutlich wird eine Rentenreform an sie auch nicht rühren: Dass die 40 Jahre Beitragsdauer angetastet werden könnten, hatte CSV-
Sozialministerin Martine Deprez zumindest vor einem Jahr ausgeschlossen: „Wer 40 Jahre für die Gesellschaft da war, hat es verdient, in Rente gehen zu können“ (d’Land, 3.1.2024). Der Premier deutete im RTL-Interview an, dass sich an dieser Position seither nichts geändert hat: Er wolle nur „fragen“, wieso der tatsächliche Renteneintritt in Luxemburg so niedrig liegt. Die Antwort kennt er natürlich. Es ist dieselbe wie vor zwölf Jahren, als Luc Frieden als Finanzminister mit Mars Di Bartolomeo als LSAP-Sozialminister die letzte Rentenreform entwarf. Sie bot „à la carte“ an, länger zu arbeiten oder eine kleinere Rente hinzunehmen. So, wie das schon immer funktioniert hat. Die neuen Renten werden aber bis 2052 allmählich immer kleiner. Das Abwägen wird nach und nach kritischer. Und kürzt eine neue Reform die Renten weiter, verstärkt sich das.