Über den Wochenwechsel tauschten die LSAP-Lokalsektion Wintger und LSAP-Innenminister Dan Kersch im Tageblatt Leserbriefe aus. Die Wintger LSAP beschwerte sich, durch die Gemeindefinanzreform werde die mit 113,4 Quadratkilometern flächenmäßig größte Gemeinde des Landes 18 Prozent ihrer ordentlichen Einnahmen einbüßen. Worauf Dan Kersch nicht nur erwiderte, 2015 seien die Pro-Kopf-Einnahmen Wintgers die landesweit vierhöchsten gewesen und Ziel der Reform sei nun mal, für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Der Minister teilte auch mit, was bisher noch nicht bekannt war: Gemeinden, denen durch die Reform Geld verloren geht, werden das nicht, wie er Anfang Juli erklärt hatte, nur bis 2021 aus der Staatskasse so kompensiert erhalten, dass ihre nicht zweckgebundenen Einnahmen auf keinen Fall kleiner werden können als die von 2015, sondern „ohne zeitliche Begrenzung“. Das habe der Regierungsrat in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause entschieden, und der Vorschlag dazu sei, so Dan Kersch, von ihm und Finanzminister Pierre Gramegna (DP) „gemeinsam“ ausgegangen.
Vorstellbar ist es schon, dass LSAP und DP gleichermaßen meinen, das mit der Gemeindefinanzreform verbundene politische Risiko mindern zu müssen. Nicht nur im Hinblick auf die Gemeindewahlen nächstes Jahr, sondern auch darüber hinaus. Denn die Regierung will, wie Dan Kersch es am 5. Juli umschrieb, die Gemeindefinanzen stärker dorthin lenken, „wo die Leute wohnen“. Dazu soll der Gemeindefinanzausgleich gestrafft und vereinfacht werden und die Umverteilung sich stärker als bisher nach der lokalen Einwohnerzahl richten. Im Juli rechnete Dan Kersch unter den 105 Gemeinden mit 31 „Verlierern“. Von Ausnahmen wie Leudelingen, Niederanven und Bartringen abgesehen, liegen sie alle in den Wahlbezirken Norden und Osten, die weder DP- noch LSAP-Hochburgen sind und wo die letzten Umfragen im Juni beiden Parteien beträchtliche Stimmenverluste bei den Landeswahlen vorausgesagt hatten. Mag sein, dass die bevorstehende politische Debatte um die Reform präventiv entschärft werden soll, damit sie bis zum Herbst 2018 leichter vergessen wird.
Vielleicht aber ist die Regierung sich über die zu erwartenden Auswirkungen der Reform auch weniger im Klaren, als Dan Kersch das bisher zugab. Seit Mitte dieser Woche ist der Reform-Gesetzentwurf öffentlich. An ihm fällt auf, dass er keinerlei konkrete Szenarien über die finanzielle Entwicklung je nach Gemeinde enthält und an keiner Stelle von 31 Verlierern die Rede ist. Stattdessen räumt die Regierung in der Fiche financière zum Gesetzentwurf ein, die Gemeindefinanzreform sei noch nicht mit „bestimmten anderen Reformen“ abgestimmt, darunter die Steuerreform.
Vermutlich ist das der Hauptgrund, dass Artikel 10 im Gesetzentwurf zwar eine „zeitweilige Kompensation“ einführen soll, aber offen gelassen wird, was „zeitweilig“ heißen soll. Im Motivenbericht wird lediglich geschätzt, bis 2022 werde der Gemeindesektor sich „strukturell“ an die Reform gewöhnt haben, würden Verlierergemeinden also zu sparen begonnen haben. Doch: Längst schon sind die Gemeindefinanzen stark abhängig vom Steueraufkommen des Staates. Die einzige Kommunalsteuer, die so genannt werden kann, ist die Grundsteuer, die jedoch wegen der völlig veralteten Einheitswerte der Immobilien insgesamt nur 40 Millionen Euro im Jahr einbringt.
Dem gegenüber stehen für dieses Jahr voraussichtlich 591 Millionen Euro aus der eigentlich kommunalen Gewerbesteuer, die jedoch zu drei Vierteln in der Hauptstadt und in Niederanven mit dem Flughafen und den Firmensitzen von Luxair und Cargolux eingenommen wird, und der Löwenanteil mit knapp 1,1 Milliarden Euro aus dem staatlichen Gemeinde-Dotationsfonds FCDF. Die Reform sieht vor, Gewerbesteuer und FCDF, die bislang getrennt zwischen den Gemeinden umverteilt werden, in einem einzigen Topf, einem „Fonds de dotation globale des communes“, zusammenzufassen und dessen Inhalt gemeinsam umzuverteilen. Nichts ändern aber soll sich daran, dass 18 Prozent der Einnahmen des Staates aus der Einkommenssteuer natürlicher Personen an die Gemeinden fließen, ein Zehntel der Mehrwertsteuereinnahmen, ein Fünftel der Autosteuer sowie sämtliche Alkoholakzisen. Da die Regierung in ihrem Steuerreformentwurf den Einnahmenausfall aus der Einkommenssteuer für 2017 auf 374 Millionen Euro veranschlagt und auf 356 Millionen für die Folgejahre, stünden für den neuen Gemeinde-Topf mit dem 18-Prozent-Anteil im kommenden Jahr mechanisch 67 Millionen Euro weniger zur Verfügung und in den Jahren danach
64 Millionen weniger.
Das macht die Gemeindefinanzreform in ihrem Ansatz nicht falsch. Das Geld „zu den Leuten“ zu bringen, folgt zwar auch dem Mantra, „wir müssen die Städte stärken“, das Landesplanungsminister François Bausch (Déi Gréng) immer wieder aufsagt, und womit der Bevölkerungszuwachs in Richtung 700 000-Einwohnerstaat in die Städte gelenkt werden soll, wo die Bahn- und Busanbindungen besser sind als auf dem Lande. Mehr noch trägt die Reform dem ziemlich alarmierenden Befund Rechnung, den das Sozialforschungsinstitut Liser im Frühjahr 2014 der Regierung schickte, als sie gerade ein paar Monate im Amt war. „Sozialfall Stadt“ hätte man den Bericht überschreiben können, den noch die Vorgängerregierung bestellt hatte: Mit Ausnahme der Hauptstadt bestehe in fast allen anderen urbanen Zentren eine „Tendenz zur relativen Verarmung“. Verhelfe die Politik diesen Städten nicht zu einer regelrechten „zweiten Chance“, drohe vielleicht keine „Ghettobildung“ wie in Städten im Ausland, aber eine „Spaltung“ unter den Bevölkerungen. Und weil die ein Kunterbunt verschiedener Nationalitäten sind, womöglich ein Abgleiten in einen „Identitätswahn“ (d’Land, 16.05.2014).
Der Innenminister erwähnte diesen nie breit publik gemachten Bericht über den „territorialen Zusammenhalt“ des Landes nicht, als er der Wintger LSAP antwortete. Dass Dan Kersch von „massiven Problemen mit regelrechten sozialen Brennpunkten vor allem in den bevölkerungsreichen Gemeinden“ schrieb, zielte aber in dieselbe Richtung. Das Liser hatte vor zwei Jahren ermittelt, im Landessüden betrage die lokale Arbeitslosenrate acht bis 13 Prozent, der Anteil der Sozialhilfeempfänger sei in Wiltz, Ettelbrück, Esch/Alzette und Differdingen besonders hoch und die Einkünfte der Bürgerinnen und Bürger aus bezahlter Arbeit lägen in diesen Städten, aber auch in Clerf, Diekirch und Echternach bis zu 27 Prozent unter dem nationalen Medianeinkommen. Falsch kann es deshalb nicht sein, die Klüfte bei den Gemeindeeinnahmen zu verkleinern, und darauf zielt die Finanzreform ab: In keiner Gemeinde sollen die Pro-Kopf-Einnahmen künftig unter 2 250 Euro liegen. Bisher ist das in rund der Hälfte aller Gemeinden der Fall, darunter vor allem in größeren wie Kayl, Rümelingen und Echternach, aber auch in Dörfern wie Hobscheid und Beaufort, der 2015 mit 1 839 Euro pro Kopf ärmsten Gemeinde im Land.
Die größten politischen Auseinandersetzungen aber könnte es nicht um heute relativ wohlhabende Landgemeinden geben, die flächenmäßig groß sind wie Wintger, Weiswampach, Rambrouch oder Tandel, und die Extra-Zuwendungen erhalten, weil bei ihnen wegen der großen Flächen Infrastrukturkosten für Straßen, Wege und Kanäle, aber auch der Schülertransport relativ hohe Ausgaben verursachen. Gegen die Streichung dieser „Grünanteil-Zulage“ hatte im Juli schon die CSV protestiert. Darüberhinaus aber kündigte der christlich-soziale député-maire Gilles Roth aus Mamer im Luxemburger Wort vor vier Wochen Widerstand gegen die geplante Besserstellung von 12 Gemeinden wie Wiltz, Clerf, Echternach oder Differdingen an, nicht weil sie Städte mit sozialen Problemen sind, sondern weil die Regierung sie als besonders zu entwickelnde „Zentren“ ansieht. Diese Idee ist schon mehr als 15 Jahre alt, die CSV aber hatte sie schon unter der vorigen Regierung verworfen und stattdessen 38 „Vorranggemeinden“ ausgewählt, die sich auch in den ersten vier Plans sectoriels zur Landesplanung wiederfanden, die noch unter CSV-Minister Claude Wiseler ausgearbeitet worden waren. Dass Gilles Roth schon vor Jahren stark für „Vorranggemeinden statt Zentren“ eintrat, lag auch daran, dass er seine Gemeinde, die stark wächst, derart eingestuft sehen wollte.
In dieser Auseinandersetzung, die nach der Rentrée zu erwarten ist, könnten auch Mindereinnahmen im neuen Gemeindetopf aufgrund der Steuerreform eine Rolle spielen, trotzdem 64 bis 67 Millionen Euro bei einem Kommunaletat von insgesamt fast 1,8 Milliarden nach nicht viel aussehen. Denn die Reform will besonders den Gewerbesteueranteil, den jede Gemeinde für sich behalten kann, für die reicheren unter ihnen kappen. Der Hauptstadt, die 2014 sagenhafte 339 Millionen Euro einnahm, davon aber nur 176,7 Millionen behalten durfte, würden nächstes Jahr, träte die Reform wie entworfen in Kraft, nur knapp 39 Millionen Euro für sich verbleiben. Dennoch soll Luxemburg-Stadt pro Kopf mit 3 630 Euro am Ende zwei Prozent mehr aus dem gemeinsamen Topf erhalten als heute. Das wären fast 600 Euro mehr als für das zweitplatzierte Esch/Alzette, weil ihr wegen der „Hauptstadtrolle“ die bei der Umverteilung so entscheidende Einwohnerzahl von Amts wegen noch um 45 Prozent erhöht würde. Dieses Extra könnte ins Gerede geraten, falls die CSV auf ihren „Vorranggemeinden“ bestünde. Das Extra für Esch/Alzette von 25 Prozent auf die Einwohnerzahl womöglich auch. Dann könnte sich der Premier und Ex-Bürgermeister aufgerufen fühlen, für „seine“ Stadt zu streiten, die LSAP für das rote Esch – und der politische Kompromiss mit der CSV könnte darauf hinauslaufen, den nächstkleineren „Zentren“ trotz aller sozialen Probleme doch weniger zu geben.
Zumal zwei Dinge in der Gemeindefinanzreform nicht vorgesehen sind, obwohl sie im Regierungsprogramm groß als „globale“ Reform angekündigt wurde: Zum einen bleibt die Grundsteuer, wie sie ist, weil keine Einigung darüber besteht, wie die Immobilien in Zukunft anders bewertet werden könnten, und die Koalition die Grundstücksbesitzer nicht verärgern will. Zum anderen lässt die Reform das staatliche Subventionsregime für kommunale Projekte unangetastet. Die vorige Regierung hatte 2013 kurz damit gedroht, reicheren Gemeinden diese zweckgebundenen Zuwendungen zu kürzen. Da nun die nicht zweckgebundenen kommunalen Einnahmen nach oben nivelliert werden sollen, würden im Grunde noch mehr Gemeinden angereizt, überdimensionierte Kulturzentren und Sportstätten zu bauen, nur weil der Nachbar sie schon hat. Letzten Endes hat ein Jahr vor den Kommunalwahlen keine der politischen Parteien Interesse daran, „ihren“ Gemeinden etwas wegzunehmen.