Die gute Nachricht vorweg: Die Europäische Union wird weiter existieren und nicht implodieren. Darüber waren sich Daniel Cohn-Bendit, Guy Verhofstadt, Jean Quatremer von der französischen Zeitung Libération und Thomasz Bielecki von der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza schnell einig. Diese vier bestritten die erste von vier Podiumsdiskussionen des ersten Spinelli-Forums, das am vergangenen Montag in der Freien Universität Brüssel ausgerichtet wurde. Die Spinelli-Gruppe ist eine lockere Vereinigung von inzwischen 108 Europaabgeordneten, die darauf hinarbeitet, dass sich die Europäische Union zu einem echten europäischen Föderalstaat weiterentwickelt.
Die Veranstaltung wollte mit ihrem Slogan „Föderalismus oder gar nichts!“ provozieren, was Isabelle Durant, grüne Europaabgeordnete aus Belgien und Initiatorin der Veranstaltung, auf Nachfrage auch gerne zugab. Sie hält eine breite Föderalismusdebatte in Europa für dringend geboten angesichts eines wieder erwachenden europäischen Nationalismus, zunehmendem Populismus und Stimmungsmache gegen Europa. Nicht nur für sie und viele Teilnehmer an den Podiumsdiskussionen, sondern auch für die zahlreichen Studenten und Vertreter von Nicht-Regierungs-Organisationen, die am Forum teilnahmen, war die Frage, ob es einen europäischen Föderalstaat geben solle, schon lange beantwortet. Es ging nur noch um das Wie. Allein der französische Journalist und Philosoph Paul Thibaut, der am dritten Podium mit der Frage ‚Wie erreicht man eine durchgehende europäische Demokratie?‘ teilnahm, plädierte für ein Europa der Nationen. Dieses Europa solle sich sektoral für seine Politiken entscheiden, wie es zu Beginn der europäischen Integration der Fall war. Und obwohl er darin sehr weit gehen würde, zum Beispiel mit seiner Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Armee, wurde er in einer Publikumsfrage in die Nähe des Front national gerückt.
Über mögliche Wege zum Föderalismus, den Veränderungsdruck, dem sich die europäischen Institutionen ausgesetzt sehen und der allgemeinen Zustandsanalyse der EU konnte man einiges lernen. Quatremer erinnerte daran, dass viele schon 1999 mit der Einführung des Euro mit einem föderalen Schub gerechnet hätten, der dann ausgeblieben sei. Heute sei der Rat mehr denn je das Entscheidungszentrum. Dennoch sei die Lage paradox. Obwohl der Rat die Kommission immer mehr an den Rat gedrängt habe, habe er ihr in der Euro/Schuldenkrise Kompetenzen in der Wirtschaftspolitik in einem nie erwarteten Ausmaß übertragen. Er wolle aber keineswegs, dass EU-Kommissar Ollie Rehn wie ein Prokonsul in die Haushaltspolitik Frankreichs eingreife. Da fehle jedes demokratische Gegengewicht.
Dany Cohn-Bendit will dem Rat die legislative Entscheidungskompetenz wegnehmen und dafür eine zweite Kammer bilden, die sich aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammensetzen soll. Dieser Vorschlag ist unlogisch, denn er übersieht, dass das Europäische Parlament genau aus einer solchen Kammer hervorgegangen ist. Viel logischer wäre es, dem Rat nur die legislative Kompetenz zu belassen und ihn zu einem Senat auszubauen, der sich aus gewählten Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt, wie es die Amerikaner tun. Mehr Charme hatte sein mit leichter Hand Richtung Verhofstadt ausgeworfener Köder, für die nächste Europawahl eine Parteienallianz aus Liberalen, Sozialdemokraten, Grünen und Kommunisten mit vier Spitzenkandidaten zu bilden. Aus diesem Quartett solle dann der nächste Kommissionspräsident kommen, wenn die Koalition eine Mehrheit im Parlament erreichen würde. Verhofstadt war klug genug, den Köder nicht zu schlucken.
Verhofstadt, für den die amerikanische Nationenbildung das große Vorbild ist, wies zu Recht darauf hin, dass die Wurzeln der modernen Demokratie in der Auseinandersetzung über Steuern liegen. Auch deshalb plädiert er so vehement für europäische Eigenmittel und unterstützt den Vorschlag der Kommission, eine europäische Mehrwertsteuer und die Finanztransaktionssteuer als EU-Eigenmittel ab 2014 zu etablieren. Sein Kalkül: Wenn die Leute erst mal europäische Steuern zahlen müssen, dann werden sie sich auch viel stärker mit der demokratischen Kontrolle auseinandersetzen.
Die schlechte Nachricht brachte das letzte Podium, das darüber diskutierte, ob die nationalen Wirtschaftspolitiken den Euro scheitern lassen werden. André Sapir, Ökonomieprofessor an der Freien Universität Brüssel, konnte überzeugend darlegen, dass selbst ein oberflächliches Ende der Euro/Schuldenkrise die grundsätzlichen Konstruktionsfehler der gemeinsamen Währung nicht beseitigen kann, die unweigerlich zu neuen Problemen führen würden. Er sei sehr enttäuscht, dass der Europäische Rat im Dezember keine politische Erklärung über eine engere institutionelle Zusammenarbeit in einer Art Neugründung der Union abgegeben habe. Der Rat zeige sich weder intellektuell noch institutionell den Herausforderungen der Krise gewachsen. Damit bleibt den Föderalisten die Krise als Motor der Veränderung erhalten.