Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) und die damalige Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) hatten es auf eine parlamentarische Anfrage hin schon im Januar mitgeteilt: Eine Reform der Pflegeversicherung wird es bis zu den Wahlen nicht mehr geben. Allenfalls ein Entwurf dazu könnte 2014 vorliegen. Anfang des Jahres aber war es Di Bartolomeo und Jacobs noch „unmöglich zu sagen“, wie die jüngste Branche der So-zialversicherung „ausgerichtet“ würde, damit sie finanzierbar bleibt.
Viel klarer ist das auch jetzt nicht, nachdem der Sozialminister am gestrigen Donnerstag einen über 400 Seiten langen Bericht der Generalinspektion der Sozialversicherung über Le fonction-nement et la viabilité financière de l’Assurance dépendance vorgestellt hat. Zwar ist die Finanzlage der Pflegekasse prekär. Ab 2016 dürften die Einnahmen nicht mehr reichen, um die Ausgaben zu decken und obendrein die gesetzlich vorgeschriebene Reserve zu bilden. Dann könnten die Beiträge erhöht werden müssen – wie der Bericht suggeriert, von derzeit 1,4 Prozent des steuerpflichtigen Bruttolohns auf mindestens 1,5 Prozent.
Aber um eine kleine Finanzspritze, die sich schnell beschließen ließe, geht es nicht. Die Pflegeversicherung soll bis ungefähr 2030 neu ausgerichtet werden. Laut IGSS könnten die Pflegeausgaben sich dann auf gut eine Milliarde Euro belaufen und damit fast doppelt so hoch sein wie die 552 Millionen, die im Budget der Pflegekasse für dieses Jahr eingeplant sind. Die Einnahmen könnten 2030 bei 958 Millionen Euro liegen, gegenüber für dieses Jahr vorgesehenen 545 Millionen. Es sei denn, der Beitragssatz beliefe sich dann auf rund 1,7 Prozent.
Das sieht auch noch nicht nach viel aus und ließe sich ebenfalls schnell beschließen. Wie 2006, als der Beitragssatz auf einen Schlag von ein auf 1,4 Prozent angehoben wurde. Doch: Im Moment steht im Pflegeversicherungsgesetz noch, 40 Prozent der Pflegekassenausgaben würden vom Staat getragen. Dieses Jahr werden das 222 Millionen Euro sein, 2030 wären es mit 433 Millionen fast doppelt so viel – falls sich nichts ändert. Das soll es aber. In seiner Erklärung zur Lage der Nation hat Premier Jean-Claude Juncker im April die Richtung vorgegeben: „Wir wollen die Qualität der Pflege beibehalten, aber wir müssen ihre Kosten wieder in den Griff bekommen. Entweder durch die Begrenzung des Anstiegs der Leistungskosten. Oder aber – falls das nicht geht – durch eine Erhöhung der Versichertenbeiträge, ohne dass die Finanzlast für den Staat zunimmt.“ Doch weil die Finanzlast für den Staat nicht wächst, wenn die Beiträge steigen, soll es bei der Pflegereform vor allem um Kostensenkung gehen. Oder um eine zumindest teilweise Defiskalisierung der Pflegeausgaben. Es sei denn, die nächste Regierung sieht das anders.
Oder wäre die Qualität der Pflege beizubehalten, wenn man gleichzeitig die Kosten drastisch senkt? Leider ist das schwer zu sagen, auch anhand des langen IGSS-Berichts. Der ist die erste umfassende Bilanz seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung Anfang 1999. Nur eine einzige, viele kleinere, war im Mai 2001 dem Parlament vorgestellt worden. Aber damals war die Pflegeversicherung noch jung. Die Debatte drehte sich vor allem um die seinerzeit sehr lange Bearbeitungsdauer der Pflegeanträge durch die neu geschaffene Cellule d’évaluation et d’orientation und um die Frage, ob Luxemburg über genug Pflegebetten verfüge und ob die Unterbringungspreise in Alten- und Pflegeheimen nicht zu hoch seien.
Heute vergehen im Schnitt nur noch knapp fünf Monate bis zum Entscheid über einen Pflegeantrag. Mit 79,1 Pflegebetten auf 1 000 Einwohner ab 65 Jahren ist Luxemburg weitaus besser ausgestattet als Deutschland (50,3), Frankreich (67,9) und Belgien (71,9). Die Zahl der Pflegeleistungsempfänger hat sich zwischen 2000 und 2010 auf knapp 12 000 verdoppelt, die der Dienstleister ebenfalls, und mit 7 373 Vollzeit-Arbeitsplatzeinheiten, die 2010 mehr als 9 000 Beschäftigten entsprachen, hat sich eine Branche entwickelt, die mehr Jobs zählt als die heimische Stahlindustrie mit all ihre Tochterunternehmen.
Wie die Dinge liegen, wird die Bedeutung dieser Branche noch zunehmen. Von der Verdoppelung der Pflegeausgaben spricht die IGSS einerseits wegen des demografischen Wandels: Wurden 2001 in Luxemburg auf 100 Null- bis 14-Jährige noch 98 über 60-jährige gezählt, dürften es 2030 rund 150 sein. Andererseits geht sie davon aus, dass die Lebenserwartung der 65-Jährigen, die 2010 hierzulande im Schnitt bei 17,3 Jahren für Männer lag und bei 21,1 Jahren für Frauen, bis 2030 für beide Geschlechter um 2,2 Jahre zunehmen wird. Die zusätzliche Lebenszeit werde aber bei schlechter Gesundheit verbracht, prophezeit die IGSS, und die Zahl der Pflegebedürftigen werde bis 2030 auf fast 19 000 wachsen.
Dass für diese Personen eine Pflege in hoher Qualität erforderlich sein wird, versteht sich umso mehr von selbst, als die höhere Lebenserwartung einhergehen könnte mit mehr Fällen von Altersdemenz: 2010 befanden sich 79 Prozent der Demenzkranken in der Altersgruppe der über 80-jährigen Pflegeleistungsempfänger. Auf die Pflege dementer Menschen entfielen 74 Prozent der Ausgaben der Pflegekasse. Und 51 Prozent der Ausgaben auf jene 13 Prozent, bei denen eine Demenz neben einer Haupterkrankung aus einer anderen Ursache bestand. Für sie beliefen sich die Pro-Kopf-Pflegekosten auf 143 000 Euro im Jahr.
Wie angesichts solcher aktueller Gegebenheiten und Aussichten für die nahe Zukunft die Pflegekosten gesenkt werden könnten, ohne die Qualität zu beeinträchtigen, steht in dem Bericht nur ganz andeutungsweise: Sämtliche „Innovationen“ seien auf ihre „Effizienz zu überprüfen“.
Gemeint scheinen damit die seit 2007 geltenden Zusatzangebote zu sein. Schon nach dem ersten Pflegeversicherungsgesetz von 1998 sollte ein Leistungsanspruch nicht nur in der Hilfe beim Verrichten der actes essentielles de la vie, beim Aufstehen, Ankleiden, der Toilette oder beim Essen, bestehen. Wobei der Hilfsbedarf mindestens 3,5 Stunden pro Woche betragen muss. Finanziert werden daneben zum Beispiel auch technische Hilfsmittel oder ein Umbau der Wohnung. Seit 2007 aber stellt die Pflegekasse auch pauschale Geldleistungen an Personen zur Verfügung, die eigentlich nicht pflegebedürftig sind, sondern unter bestimmten Hör- und Sehbeeinträchtigungen leiden oder unter speziellen neurologischen Beschwerden. Die Angebotsausweitung kam zustande nach jahrelangem Druck durch den Pflegedienstleisterverband Copas, der argumentierte, damit ließe sich bei den Betreffenden einer später vielleicht umso gravierenderen Pflegebedürftigkeit vorbeugen. Heute fragt die IGSS sich, ob das wohl zutrifft und eine „positive Diskriminierung“ bestimmter Leiden rechtfertige. 2007 wurde auch der von der Pflegekasse finanzierte soutien ausgeweitet: Er soll „Restkapazitäten“ von Pflegebedürftigen erhalten oder mobilisieren, damit sie möglichst viele actes essentielles de la vie selber ausführen können. Die IGSS merkt an, dass kein anderes Land der Welt dergleichen innerhalb der Langzeitpflege anbiete. Aber während dieses Angebot ab 1999 nur für Einzelpersonen galt, wird seit 2007 auch Gruppen-Unterstützung finanziert. Vor allem diese hat in Heimen spektakulär zugenommen, und der Bericht lässt anklingen, das sei eventuell nicht nötig. Ebenfalls fragen müsse man sich, so die IGSS, ob es nicht „zu einfach“ sei, sich technische Hilfsmittel von der Pflegekasse finanzieren zu lassen: 20 Prozent der Empfänger der Hilfsmittel sind nicht pflegebedürftig im Sinne des Gesetzes.
Doch wenn in den nächsten zwei Jahrzehnten eine Verdoppelung der Pflegeausgaben um eine halbe Milliarde Euro in Aussicht stehen könnte, wäre es vermutlich nicht nur naiv zu glauben, eine Beschränkung des Anspruchs auf einen Duschschemel oder ein elektrisch verstellbares Bett könnte der Kasse große Entlastung bringen. Vielleicht brächte ein Limit für die Gruppen-Unterstützung in Heimen oder die Abschaffung der „präventiven“ Pflege bestimmter Personen ebenfalls nicht viel. Das Problem ist nur: Was an Pflegeleistungen „nützlich und notwendig“ ist, zu welchem Gewinn an Lebensqualität sie führen und was das mit Kosten zu tun hat, kann niemand genau sagen, weil das noch nicht untersucht wurde. Das wiederum scheitert schon daran, dass es noch keine einheitliche Pflegedokumentation gibt, auf die solche Untersuchungen sich stützen könnten. Das System weiß nicht, was es tut: da geht es der Pflegebranche wie den Spitälern im Lande. Was auch ein Grund dafür ist, dass niemand so richtig weiß, wieso die durchschnittlichen Pro-Kopf-Pflegekosten in der Heimpflege mit den Jahren um rund das Anderthalbfache gestiegen sind, während sie in der mobilen Pflege nahezu konstant blieben (siehe Grafik).
Hinzu kommt, dass die Pflegetarife, die die Gesundheitskasse CNS anwendet, zwar Minutentarife sind, die pro Pflegeakt gelten. Der Geldwert, den ein Akt hat, ehe er mit Minuten multipliziert wird, entspricht jedoch einem durchschnittlichen Gestehungspreis für ganz Luxemburg, dessen Höhe CNS und Copas aushandeln. Der individuellen Situation der Pflegebedürftigen gerecht, wie 1997 versprochen wurde, als die damalige Sozialministerin Mady Delvaux (LSAP) eine Pflegeversicherung nach dem deutschen Modell mit drei starren Pflegestufen verwarf, wird das wohl nicht. Umso mehr, als das kanadische Minuten-Modell, das Luxemburg benutzt, mittlerweile über drei Jahrzehnte alt ist und zur Erfassung des Pflegeaufwands entwickelt wurde, aber nicht zur Bildung von Tarifen.
Und schließlich: Was „Qualität“ in der Langzeitpflege sein soll, ist auch hierzulande immer wieder Thema von Konferenzen. Die vor vier Jahren eingerichtete paritätische Qualitätskommission aber konnte bisher noch nicht wirklich ihre Arbeit aufnehmen, weil sich ihre Mitglieder nicht einig wurden, worüber man diskutiere. Dabei soll die Kommission Normen setzen, die dann auch kontrolliert würden. Da die Kommission nicht vom Fleck kommt, hat die Cellule d’évaluation et d’orientation (CEO) sich schon vorgenommen, selber Qualitätsnormen zu entwerfen. Doch dazu fehlt ihr das Personal. Gar nicht zu reden von dem, das nötig wäre, um die Einhaltung der Normen zu kontrollieren.
Damit ist an der Luxemburger Pflegeversicherung, die als Vollversicherung für alle ohne Eigenbeteiligung besser sein sollte als die deutsche, die nur als Teilkaskoversicherung entworfen worden war, viel grundsätzliche Arbeit nötig. Auch zu einzelnen Fragen. Der Bericht betont zum Beispiel, wie dringend die Rolle der nichtprofessionellen aidants informels definiert werden müsse, die etwa die Pflege eines Angehörigen übernehmen und dafür für maximal 10,5 Stunden die Woche 25 Euro pro Stunde aus der Pflegekasse erhalten, plus einen Beitrag zur Pensionskasse. Mehr als 400 Millionen Euro flossen seit Schaffung der Pflegeversicherung an die nichtprofessionellen Pfleger. Heute wird festgestellt, dass nicht wenige von ihnen über 80 Jahre alt sind. Was sie zu leisten imstande sind, könnte man sich fragen; aber was sie leisten müssten, steht nirgendwo.
Am Ende der Bilanz über 14 Jahre Pflegeversicherung ist zu lesen, dass sie noch längst nicht komplett sei. Die „Akteure“ werden gebeten, sie zu vervollständigen. Beispielsweise sei zu klären, welche Betreuung im Heim obligatorisch im Unterbringungspreis inklusive ist. Oder wie es sein kann, dass von manchen Pflegeleistungen viel weniger in Rechnung gestellt wird als dem zu Pflegenden von der CEO als Bedarf zuerkannt wurde. Das sind wichtige Fragen, aber ob sie sich noch dieses Jahr beantworten lassen, damit ein Reformentwurf geschrieben werden kann und die nächste Regierung keine Zeit verlieren muss?
Wahrscheinlich nicht, und wenn vor den Wahlen noch ein Entwurf entsteht, dann wohl nur einer, der so allgemein ist, dass jede Regierung ihn aufgreifen könnte. Und immerhin hat der Premier im État de la nation die Pflegeversicherung „eine Fairnessleistung von CSV und LSAP“ genannt: Da wird im Wahlkampf kein Reformpapier erscheinen, dem man vorwerfen könnte, doch nicht fair zu sein. Falls für die nächste Regierung, wie für die aktuelle, die Kostensenkung ein Hauptanliegen der Pflegeversicherunsgreform sein soll, wird aber entscheidend sein, wie sie „Fairness“ versteht. In der Pflegeszene gibt es nicht wenige Stimmen, für die Luxemburg nicht um Eigenbeteiligungen bei der Pflegeversicherung vorbei kommt. Zumal die Renten so hoch sind und die Altersarmutrate so gering. Richtig austariert, könne eine solche Lösung fair sein ...