Roger Manderscheids Theaterstück ist 1983 bei éditions phi erschienen. Im Vorwort liest man kleingedruckt: „das schauspiel war eine auftragsarbeit für das kasematten-theater, die dann abgelehnt wurde. verschiedene mitglieder des ensembles meinten, mit der vorführung eines solchen stücks laufe die truppe gefahr vor leeren stühlen zu spielen, das stück sei zu modern, zu schwierig; (...).“ Fast 40 Jahre später wurde Manderscheids Text aus der Mottenkiste gezogen und nun als „Hommage“ an den Luxemburger Autor vor halbleeren Zuschauerrängen gespielt – allerdings nicht, weil kein interessiertes Publikum vorhanden ist, im Gegenteil: Die Inszenierung von Manderscheids Text ist zweifellos ein Highlight der Theatersaison, zwölf Spieltermine sind angesetzt! Sondern, weil die Corona-Pandemie „social distancing“ gebietet. Mit Marie Jung, Nora Koenig, Nickel Bösenberg, Pitt Simon und Konstantin Rommelfangen wurde ein erstklassiges Ensemble gecastet. Regie führt Serge Tonnar. Wem es vermessen erscheint, dass sich gerade ein Meister der Selbstinszenierung wie Tonnar an den bescheidenen Manderscheid heranwagt, wird geringfügig besänftigt durch das Begleitblatt. Darin räumt Tonnar ein, dass er „kein Theaterregisseur ist, aber ein Freund der Bühne“. Als Autor und Künstler verspüre er eine „Seelenverwandtschaft“ mit Manderscheid. Das Zurück auf die Bühne fühle sich „fast wie ein Akt der Resistenz, der Perseveranz gegenüber dem unsichtbaren Feind“ an.
Das Bühnenbild (Dagmar Weitze) ist schlicht: vier weiße Sofasessel, so dass die Aufmerksamkeit auf Text und Schauspielern liegt. Mondän fläzen die Darsteller auf den Sofas, behaglich versunken in ihren Wohlstand. Textfragmente laufen über den Monitor und werden an die Leinwand projiziert. Die Bühne ist in Nebelschwaden getaucht. Schemenhaft erkennt man die Fratze Pinocchios. Bei den durch den Raum fliegenden Satzfetzen wird klar, dass Manderscheids Text noch heute Gültigkeit hat: „Ich bin mir sicher, dass Werner die Portugiesin fickt“, heißt es etwa. Die Abschätzigkeit, mit der man namenlos über Gastarbeiter und Einwanderer spricht, als „die Portugiesin“ oder „den Türken“, hat sich bis heute gehalten. Die fünf Schauspieler schnattern lapidar vor sich hin, palavern von Burgunder, Bonanza oder dem letzten Sex, der schon lange zurückliegt. Herkul Grün (Konstantin Rommelfangen) personifiziert gewissermaßen das moralische Gewissen. Er legt die bröckelnde bürgerliche Fassade offen, wenn er provokativ in den Raum wirft: „Gibt es überhaupt glückliche Menschen hier?“ Herkul stellt in Tonnars Inszenierung pädagogisch die Fragen, die das Publikum sich stellen sollte, womit der Nährboden geschaffen ist, um sich den Rest des Stücks über berieseln zu lassen.
Wenn Smileys über die Leinwand flimmern, wird einem der gewollte Bezug in die Gegenwart eingebläut. Aufgeregt reden die Schauspieler aneinander vorbei. Nora König überzeugt in der Rolle der mondän-gelangweilten Hausherrin mit schrillem Gekicher. In Manderscheids Urtext heißt es: „unser leben war nur ein geschwätz das sich in schweigen verwandelt hat.“ Wiewohl der furiose Text überzeugt, wenn er denn als solcher belassen wurde – „werner: ‚manchmal haß ich dich auch: in deinem nie ganz sauberen morgenrock, mit deinen strähnigen haaren, die schon so dünn sind, daß man die kopfhaut schimmern sieht, mit deinen hängebrüsten, deinem pferdearsch und deinem doppelkinn in nabelhöhe.‘“
Ein klopfendes, artifizielles Herz nebst Spiegelungen der versonnenen Gesichter der Schauspieler bemüht Videoeffekte, die schon zu oft auf der Bühne (ab)genutzt wurden. Der kreative elektronische Sound schafft etwas Abwechslung. Einige Textfragmente hängen zusammenhanglos im Raum und tun dennoch ihre Wirkung. Denn Manderscheids Schauspielfassung ist grandios und zeitlos – gerade, wenn er über die bürgerlichen Zwänge und das Scheitern der Liebe am Ehealltag schreibt: „liebe ist auch kein haustier in pantoffeln aus filz, nicht mal ein ausgestopftes pelztier zur erinnerung an feurigere tage, liebe lässt sich nicht einkochen, einfrieren, liebe überwintert nicht im bokal, unter den zwängen den alltags geht liebe zugrunde, die auf uralten ehegesetzen basiert...“
Text wie Ensemble haben das Potenzial, den traurigen Ehealltag des Bürgertums widerzuspiegeln und etwas Tolles zu kreieren – doch ist keinerlei Regiehandschrift zu erkennen. So hängen die Schauspieler in der einstündigen Inszenierung meist motivationslos in ihren Sesseln und außer den moralischen Weckrufen von Herkul Grün, garniert mit wenig subtilen Video-Effekten passiert auf der Bühne wenig: Ein kurzweiliger Abend, den man dank der Textfragmente, die an den grandiosen Luxemburger Autoren Roger Manderscheid erinnern, und dank der Schauspieler dennoch streckenweise genießen kann. Zu solchen Anlässen wird dann immer gefragt, wie der Autor selbst wohl die Inszenierung seines Textes gefunden hätte. Angesichts der Einfallslosigkeit hätte Manderscheid wohl nur den Kopf geschüttelt oder müde gegähnt. Nach einer Stunde Inszenierung ist die Luft raus. Am Ende steht gähnende Leere. Und: Ein dreimal laut plärrendes Baby wird eingeblendet... Sylvia Tonnar-Camardas Baby sollte auch noch mal schreien. ●