Welche Formen kann Enttäuschung annehmen? Anknüpfend an die erste Produktion Bal 2017, die erst großen Stolz und später große Enttäuschung auslöste, zeigen Simone Mousset und Lewys Holt Facetten der Enttäuschung als physische Manifestation, (De-)Konstruktion nationaler Narrative und auf der Klangebene in einer offenen Probe im Escher Theater.
Illusionen zu schaffen, um sie wieder zu zerstören wie zerplatzende Seifenblasen, erscheint als ein zentrales Thema von Bal. Bereits die erste Choreografie Simone Moussets, die sie gemeinsam mit Elisabeth Schilling im Merscher Kulturhaus aufführte, sorgte für Aufsehen (d’Land, 05.05.2017). Denn die beiden Schwestern, die in den Sechzigerjahren in Luxemburg ihre eigene Tanzkompagnie gegründet und den modernen Tanz revolutioniert haben sollen, hat es in Wahrheit so nie gegeben.
Mit Bal: Pride and Disappointment verfolgen Mousset und Holt das Motiv der „Enttäuschung“ weiter und sezieren es künstlerisch. In drei verschiedenen Ansätzen oder Stimmungen („3 Moods“) zeigen sie Enttäuschung einmal physisich ausgedrückt, zum anderen auf nationale Narrative und bezogen und schließlich auf einer Gesang- und Klangebene. Es sind erste Ideen, die die Tänzerin und der Tänzer in einer offenen Probe im Studio des Escher Theaters präsentieren – eine Werkstattaufführung, die Einblicke in den Entstehungsprozess des Stücks bietet. Mit Überlegungen, die noch am Anfang stehen und die die beiden nach einer ersten Brainstorming-Phase mit dem Publikum teilen. „A kind of process and zero start“, wie Mousset zu Beginn dem Publikum erklärt. Zu tragisch-verblüfften „Oh no!“-Ausrufen sacken die Tanzenden auf der kleinen Bühne zusammen und halten sich den Kopf. Es sind unterschiedliche Formen der Enttäuschung, die sie physisch improvisieren. In der zweiten Präsentation, dem Storytelling, präsentieren sie eine Tour durch ein fiktives ländlich geprägtes westeuropäisches Land, das reich an Naturressourcen ist. Sie schaffen malerische Bilder von Wäldern, Kühen, Seen, sodass sich jeder Luxemburger darin wiedererkennen kann. Laut Simone Mousset geht es bei Bal jedoch nicht unbedingt um Luxemburg, sondern um ein fiktives Land. Es sei aus ihrer westeuropäi-
schen Perspektive entstanden: „Wir sind zwei weiße, privilegierte Künstler aus Westeuropa, und daher kommen wir eben auch darauf; also unser fiktives Land ist schon von den Kühen und den Wäldern dort irgendwo verortet.“ Humor und Selbstironie, die schon in der ersten Produktion von Bal das Stück charakterisierten, schimmern auch hier durch. Etwa, wenn die beiden sich darüber zanken, ob es nun vier oder fünf Kühe (Joss – Josiane; Claude – Claudine) sind. Am Ende des zweiten tänzerischen Entwurfs steht die Frage, was den Wald zerstört hat. Ein großer Sturm? Bal kann ein Land sein oder ein folkloristisches Märchen.
Der dritte choreografische Entwurf testet Enttäuschung auf der klanglichen Ebene aus. Am Anfang stand die Idee, mit Alberto Ruiz Soler eine Nationalhymne zu komponieren, die enttäuschend ist – auf welchem Niveau auch immer. Angenommen, man wäre nicht stolz auf sein Land, wie könnte dann eine Nationalhymne klingen? „Was wäre, wenn ‚disappointment’ ein natio-
nales Ziel wäre und nicht (National-)Stolz?“, wirft Simone Mousset in den Raum.
Zum Entstehungsprozess von Bal II gehört nicht nur der choreografische Blick von außen, auch das Publikum durfte sich bei der offenen Probe im Escher Theater einbringen. In der Publikumsdiskussion wird klar: Bal – auf Lëtzebuergesch „fast“ ist noch immer eine Utopie. Was das Publikum mit nationaler Enttäuschung verbindet: Überhöhte Hauspreise, Fremdschämen, der Ausgang des Referendums ums Ausländerwahlrecht, oder wie die deutsche Punk-Band Polkahontas ihre Ablehnung der Nation auf den Punkt bringt: „Deutschland muss sterben, damit wir leben können.“ Es zeigt sich, dass sich die scheinbar gegensätzlichen Begriffe „Stolz“ und „Enttäuschung“ bei genauer Betrachtung in ihrer Dichotomie auflösen.
Die Entwürfe in Bal II hinterfragen Nationalidentität(en) aus neuen Perspektiven, indem die Brücke zwischen Tanz und Gesang geschlagen wird. „Der Nationalmythos, aber auch Folklore ist etwas, was oft mit nationaler Identität zusammengebracht wird. Diesen Link zu bewahren, im ersten wie im zweiten Stück, das ist der Kern der Frage“, so Mousset.
Das Stück ist ein Work in progress: Fünf Wochen, davon zwei Wochen im Februar und drei im Juni, wird es noch brauchen, um Bal: Pride and Disappointment zu vollenden. – Das Ganze unter der Begutachtung dreier Choreografen: Anne-Mareike Hess, Inari Hulkkonen und Thomas Schaub. So entsteht die Produktion sukzessive wie ein Puzzle, als sich wandelnde (Neu-)Erfindung. ●